Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

9/11  aus französischer Mädchensicht

Es dürfte kaum ein Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte geben, dass sich in so vielen Comics niedergeschlagen hat wie die Attentate vom 11. September 2001. Ungeachtet der im Kontext erfreulichen Tatsache, dass die fast dreitausend Opfer der vier provozierten Flugzeugabstürze bei weitem nicht die Zahl der am Tag selbst prognostizierten Zahlen erreichten – allein fürs World Trade Center war anfangs von sechstausend Toten die Rede –, waren die Folgeschäden, auch personeller Art, noch derart grauslich viel größer, dass man sagen könnte, dass das ganze einundzwanzigste Jahrhundert bislang im Zeichen dieses Ereignisses aus seinem ersten Jahr steht.  Und es also gar nicht genug Darstellungen geben kann, ob als Film, Roman oder eben Comic.

Aber was leistet nach so vielen Vorgängern ein zum zwanzigsten Jahrestag der Attentate gezeichneter Comic aus der Sicht eines damals vierzehnjährigen französischen Mädchens? Den zudem ein Mann geschrieben hat, Baptiste Bouthier, der mit seiner Protagonistin Juliette immerhin das Geburtsjahr 1987 teilt? Wir sehen das, woran sich wohl jede, der 2001 ein Alter jenseits von sieben oder acht Jahren erreicht hatte, erinnern wird: Fernsehbilder und das ungläubige Entsetzen darüber. Aber Bouthier nimmt diesen generationenbiographischen Strang als Leitfaden für seine Erzählung der Ereignisse, die immer wieder aufs Neue auf Null zurückspringt: an den Anfang jenes Dienstagmorgens in New York, als die beiden Flugzeuge nacheinander in die Türme flogen, und damit einen anderen Nullpunkt – jenen Ground Zero, der seitdem den Ort des Zusammensturzes des World Trade Center bezeichnet.

Nacheinander bekommen wir die unterschiedlichsten Perspektiven erzählt: von knapp mit dem Leben davongekommenen Büroangestellten und Feuerwehrleuten, vom amerikanischen Präsidenten George W. Bush, der auf Reisen in den Südstaaten war und erst einmal mit seinem Regierungsflugzeug im abgelegene Nebraska in Sicherheit gebracht wurde, von einer Journalistin, die Bilder vom Einsturz der Türme aufnahm, und von den Akteuren der Post-9/11-Zeit wie Barack Obama, Usama Bin Laden oder auch Edward Snowden. Gegenüber der Prominenz in dieser Reihe haben die „Normalbürger“ eindeutig die größeren Erzählanteile. Aber neu ist kaum etwas von dem, was Bouthier zusammengetragen hat.

Nun hat er auch gar nicht diesen Anspruch. Sein Comic heißt „9/11 – Ein Tag, der die Welt veränderte“ und versteht sich somit als Erinnerung, nicht als Deutung, denn über die Formulierung des Titels besteht ja gar kein Zweifel (obwohl Juliettes Vater Verschwörungstheorien anhängt, die im amerikanischen Geheimdienst die Urheber der Anschläge vermuten, aber das ist ein winziger Aspekt in der großen Geschichte). Gezeichnet hat ihn übrigens eine Frau, Héloise Chochois, gerade mal siebenundzwanzig Jahre alt, und das wiederum tut der Mädchenperspektive der Ich-Erzählerin gut. Sie berichtet aus der unmittelbaren Gegenwart, ja, sogar leichten Zukunft, nämlich dem September 2021, als sie erstmals nach New York fliegt, um dort eine Verwandte zu besuchen und Ground Zero zu besuchen, was den Band zu einem Schlusspunkt bringt, der mit dem Gebäude des neu errichteten One World Tower eine Art Heilung und Zukunftsorientierung suggeriert, während auf den Grundflächen der World-Trade-Center-Türme die Gedenkstätte für die Opfer geschaffen wurde.

Chochois hat für ihre in Bilder eine stark blaugrau getönte Farbpalette (eine Leseprobe findet sich unter https://www.knesebeck-verlag.de/9_11/t-1/1011) gewählt, um die Staubschicht zu evozieren, die sich nach dem Kollaps der Türme über Manhattan legte. Das gilt auch für die französischen Anteile der Geschichte, so dass eine globale Betroffenheit durch die Attentate visualisiert wird. Die Figurenzeichnung erinnert stark an den französischen Zeichner Stanislas: recht eckige Physiognomien, klare Linien, flächiger Farbauftrag. Allerdings arbeitet Chochois auch immer wieder nur unwesentlich überzeichnete Bilddokumente und infografikartig abstrahierte Darstellungen  in ihre Seiten ein, die den Fluss der Erzählung brechen und aus dem fiktionalen Geschehen rund um Juliette einen Sachcomic machen. Das ist von Bouthier nicht konsequent durchdacht, weil die pädagogische Absicht so deutlich wird. Und gleichzeitig verhindert sie eine „unterhaltende“ Lektüre. Von ästhetischem Genuss ganz zu schweigen.

Wie man in solches Thema als Comic derart aufbereiten kann, dass Faszinationsbedürfnis und Wissensdurst gleichermaßen gestillt werden, hat Art Spiegelman mit „Im Schatten keiner Türme“ gezeigt. Nun lebte er ein paar Blocks vom Ort des Anschlags entfernt und nicht wie Bouthier und Chochois jenseits des Atlantiks. Dass die beiden französischen Autoren sich durch die Wahl ihrer Hauptfigur abgesichert haben gegen den Vorwurf einer lediglich vermittelten Erfahrung, ist konsequent, ändert aber nichts daran, dass dies die Schwäche ihres Comics bleibt. Der Knesebeck Verlag, für den Ingrid Ickler die Geschichte übersetzt hat, hat ein Profil als Haus für Sach- und biographische Comics entwickelt und importiert dafür fleißig aus dem frankophonen Sprachraum. Dieser Hybrid aus beiden Genres allerdings ist wenig reizvoll.

Eines aber erzählt er ganz zum Schluss, wenn die aus dem 11. September resultierenden Kriege und Unmenschlichkeiten resümiert sind. Es ist das Schicksal tausender Feuerwehrleute, die in den letzten zwanzig Jahren an der Vergiftungen gestorben sind, denen ihre Körper bei den Rettungs-, Bergungs- und Löscharbeiten ausgesetzt waren.  Ihre Zahl übersteigt mittlerweile die der Opfer am 11. September selbst. Aber dazwischen starben in Afghanistan und dem Irak unzählige Menschen mehr. Von ihnen erzählt dieser Comic zu wenig, um seinem Anspruch einer Chronik gerecht zu werden.