Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Große Ohren lassen große Augen machen

Wie erzählt man über das „Dritte Reich“ und die Folgen? Aus Opferperspektive, das ist schon mal klar, auch wenn der wohl erste Comic, der die Schoa zum Gegenstand hatte, Al Feldsteins und Bernie Krigsteins „Master Race“, das 1955 noch anders gehalten hatte – aber nur der Überraschung des Publikums wegen. In allem, was seit Art Spiegelmans „Maus“ dreißig Jahre später an Comic-Aufarbeitung der NS-Zeit erschienen ist, waren die Täter ohnehin präsent genug. Wohin sollte eine Opferperspektive sonst auch schauen?

Der für mich interessanteste Ansatz auf diesem Feld kam 2015 von Max Baitinger mit seinem „Book to the Head“, eine wie auf einer Guckkastenbühne inszenierten dreißigseitigen Geschichte im Kleinformat für das lettische Comicmagazin „Kuš!“, für die er einen einzelnen Eintrag aus Victor Klempereres Tagebüchern zur Vorlage nahm. Das Bemerkenswerte war neben der Dekonstruktion des Geschehens die baitingertypische Stilisierung der Figuren zu nahezu piktogrammartigen Gestalten – ein „Zeichentrick“ der besonderen Art, weil damit alle üblichen Klischeevorstellungen von graphischen Einteilungen in Gut und Böse entfielen und das ganze moralische Gewicht auf dem Text lag. Seitdem warte ich auf Ähnliches.

Das gibt es nun, und zwar wieder in Form eines kürzeren Beitrags zu einer Comiczeitschrift. Dass das schweizerische „Strapazin“ zu meinen vierteljährlichen Pflichtlektüren gehört, wird Kenner dieses Blogs nicht überraschen, aber häufig vorgekommen ist das Heft denn doch noch nicht. Zu vielfältig, manchmal auch zu disparat sind die jeweiligen Nummern, und das Herausgreifen eines einzelnen Comics muss schon gute Gründe haben. Nun, jetzt gibt es die wieder einmal.

Das mittlerweile 143. Heft des Magazins hat als Thema „Nonfiction“, zu Deutsch laut Obertitel: „gezeichnete Reportagen aus aller Welt“. Für mindestens zwei der fünf längeren Geschichten aber stimmt die Bezeichnung „Reportage“ nicht. Der erste ist eine Art Biographie des exzentrischen Architekten Carlo Mollino (1905 bis 1973), den weder der Szenarist Christoph Schuler noch der Zeichner Luigi Olivadoti jemals getroffen haben. Also nichts mit Reportage (nicht einmal das angegebene Sterbealter des Protagonisten stimmt), und ebenso wenig kann man „Neue Horizonte“ als eine solche bezeichnen, denn auch in diesem Comic wird nur referiert, nichts Selbsterlebtes berichtet. Aber es ist ein neuer Meilenstein der Comic-Beschäftigung mit der NS-Zeit.

Und er stammt von Julia Kluge, die im vergangenen Jahr einen ebenso klugen wie witzigen Comic über die Corona-Zeit gemacht hat: „Hopfen anbinden“, an dieser Stelle gefeiert und nachzulesen unter https://blogs.faz.net/comic/tag/julia-kluge/. Ich kannte sie vorher nicht, wusste aber, dass ich gerne mehr von ihr kennenlernen würde. Und dann macht auch sie eine Geschichte für „Kuš!“ und prompt dem Kollegen Baitinger Konkurrenz. Erschienen ist „Neue Horizonte“ dort schon 2019.

Fünf Seiten daraus kann man sich auf der Homepage von „Strapazin“ ansehen (https://strapazin.ch/?page_id=9115, man muss sich dazu durch die Ausschnitte der ersten beiden Geschichten im Heft durchklicken). Das ist immerhin ein anschauliches Viertel des Gesamtumfangs der Geschichte, das klarmachen wird, warum dieser Ansatz ungewöhnlich ist. Denn wie Baitinger stilisiert auch Julia Kluge die Figuren stark. Und gleichzeitig verleiht sie ihnen übertriebene Attribute wie Riesenohren und Kulleraugen, die dem Geschehen die Anmutung eines Puppenspiels geben. Diese Verkünstlichung verbindet ihre „Neuen Horizonte“ mit „Book to the Head“.

Was aber wird überhaupt erzählt? Die Geschichte eines in Deutschland verfolgten Juden, genau ein brillanter wissenschaftlicher Kopf wie Viktor Klemperer. Der gebürtige Ungar Philipp Schwartz nahm als Pathologe allerdings den Einschnitt, denn die Regierungsübernahme der Nazis bedeutete, viel früher ernst als der Romanist Klemperer. Noch vor der Entlassung jüdischer Hochschullehrer im April 1933 ging er außer Landes, zunächst in die Schweiz, nachdem er zuvor sechs Jahre lang in Frankfurt gelehrt hatte. Doch schon im Juni hatte Schwartz einen neuen Lehrstuhl. In der Türkei suchte das laizistische Regime von Kemal Atatürk Anschluss an die westliche Moderne und engagierte in Deutschland nicht mehr erwünschtes Fachpersonal für den Aufbau einer eigenen Hochschullandschaft. Schwartz wurde zu einem führenden Organisator des Umbaus der Universität von Istanbul. Und er gründete die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, die solche Posten für geflohene oder vertriebene Kollegen aller akademische Disziplinen rund um die Welt vermittelte.

Viel zeitgeschichtlicher Stoff für Julia Kluge, somit ganz anders als Baitingers Momentaufnahme aus Klemperers Leben. Aber sie macht es ebenso geschickt, indem mit simplen Mitteln (Schwarzweißzeichnungen bei Rückblicken, farbige Unterlegung von Sprechblasen zur Kennzeichnung der jeweils gesprochenen Sprache, abstrahierte Dekors) Komplexität auf der visuellen Ebene reduziert wird, um sie auf der textlichen zu erhöhen. Es wird sehr viel Information durch die Dialoge vermittelt, und bisweilen kommen gar Fußnoten zum Einsatz, doch trotzdem hat man den Eindruck einer opulenten Bildergeschichte, und die leicht grotesk anmutenden Physiognomie des Personals bringen zusätzliche optische Phantastik in die ansonsten denkbar ernste Erzählung. Man folgt einer solchen Darstellungsweise leichter als einer realistisch gezeichneten.

Bleibt nur die Frage: Warum müssen eigentlich solche Meistererzählungen in ein lettisches Comicmagazin, um nie (so bislang bei Baitinger) oder um Jahre verspätet (so im Falle von Julia Kluge) auf Deutsch zu erscheinen? Und dann im letzteren Fall in der Schweiz. Man sollte meinen, der böseste Abschnitt der deutschen Geschichte dürfte Anlass genug für Aufbereitung in gut lesbarer und überdies kluger Form sein, aber offenbar ist das zu kurz gedacht. Weil die Geschichten selbst zu kurz sind? Wie wäre es dann mal mit einer Anthologie? Zwei tolle Beiträge gäbe es schon mal.