Lange Zeit war ich nicht mehr jenseits der deutschen Grenzen gewesen. Das schränkte die Möglichkeiten ein, sich über neue französische Comics zu informieren. Nicht, dass es schwierig gewesen wäre, sich bei den großen Verlagen auf dem Laufenden zu halten, und die Instagram-Kompetenz meiner Frau tut bisweilen Wunder, weil dort die Eigen- und Fremdempfehlungen uns beiden sehr lieber Autoren zu finden sind. Aber wie steht es um Menschen, die wir noch nicht kennen, die allgemein noch zu unbekannt sind, um breitere Beachtung zu finden. Für so etwas sind das Durchstöbern und die Empfehlungen französischer Comic-Buchläden unerlässlich.
Nun waren wir nach mehr als zwei Jahren endlich wieder einmal in Straßburg. Kaum zwei Stunden weg von Frankfurt, aber in Corona-Zeiten eine Welt entfernt. Dort besuchen wir üblicherweise zwei Geschäfte: die Comicbuchhandlung “Bildergarte” nahe der Place Gutenberg und das große Buchkaufhaus Kléber am gleichnamigen Platz. Diesmal aber verschlug es uns zu “Ca va buller”, einem weiteren Fachhandel in der Altstadt, und dort nahm sich das Personal auf rührende Weise der deutschen Touristen an. Kaum fächerte ich eine Schachtel mit Klein- oder Privatveröffentlichungen durch, wurde ich eingedeckt mit einer Fülle weiterer Hinweise. Der schönste davon galt Seunghee Choi.
Am Namen merkt man unschwer, dass es sich um eine koreanischen Zeichnerin handelt; seit kurzer Zeit, so wusste der Verkäufer, lebe die junge Frau in Straßburg, und die erste Publikation habe man vorrätig: Sprach’s und holte ein in Plastikhülle verpacktes Querformat aus einem unübersichtlichen Stapel heraus. Zweisprachig koreanisch-französisch, sein Titel auf derjenigen der beiden Sprachen, die ich beherrsche: „Quand le vent se lève“ – wenn der Wind sich regt. Das Titelbild zeigt den Kopf einer Frau.
Aber da fängt es an, kompliziert zu werden Koreaner lesen ein Buch in den westliche Gewohnheiten entgegengesetzter Richtung. So ist auf der uns als Rückseite erscheinenden Fläche eine Frontalansicht zu sehen, während die uns als Vorderseite vorkommende Abbildung nur den Hinterkopf zeigt. Trotzdem steht der Titel des Buchs im Inneren nach dieser letzteren Abbildung – und zwar sowohl aus Französisch wie auf Koreanisch, während in östlicher Leserichtung auf den Kopf nur eine Art Impressum folgt. Einen Verlagsnamen gibt es gar nicht, also handelt es sich wohl um eine Privatpublikation, und dass ein Preis für das Buch zu ermitteln war (zwanzig Euro), verdankt sich nur der sehr guten Buchführung von “Ca va buller”, die beim Eingang des bereits 2020 gedruckten Exemplars die entsprechende Angabe auswies. Das Suchen danach dauerte nicht einmal lange.
Was ist das für ein Buch? Kein Comic, um das vorauszuschicken. Am ehesten wohl ein Bilderbuch. Aber eines mit einem höchst ungewöhnlichen Thema, das dann doch wieder dank Sequenzialität (dem zentralen Merkmal von Comics) seien besondere Form findet: Auf Doppelseiten werden jeweils gegenübergestellt variierte Rückansichten des Frauenkopfs vom Titel (links) und in der Manier japanischer Farbholzschnitte gehaltene Ansichten von Landschaftsszenerien. Was beide Motive verbindet, ist die jeweilige Scheitelung oder bisweilen auch Verwüstung (wohl durch den titelgebenden Wind) der Frisur und des Geschehens auf den Landschaftsbildern. So wird etwa das offen und glatt getragene lange schwarze Haar der Frau parallel geführt mit einem verschneiten Birkenwald, in dem die dicht stehenden Stämme dieselbe Vertikalität wie das herabfallende Haar haben. Oder eine wild verwehte Frisur findet ihr Pendant in einem wogenden Schilffeld.
Neun solcher Gegenüberstellungen gibt es, den Rest der 38 Seiten des broschierten Buchs füllen weitgehend leere Seiten, auf denen jeweils nur in Französisch und Koreanisch kurze Sätze notiert sind à la „Was versteckt sich hinter diesem Vorhang?“ (zu der Kombination aus Hinterkopf und Birkenwald). Ich würde das Prinzip gerne an einem Beispiel vorführen, aber mehr als die Instagram-Seite von Seunghee Choi gibt es nicht (https://www.instagram.com/chou_sunny_/?hl=de), und dort ist sehr viel anderes eingestellt. Erschwerend kommt hinzu, dass eine berühmte koreanische Tänzerin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts denselben Namen trägt wie die in Straßburg lebende Zeichnerin.
Mittlerweile weiß ich immerhin, dass man deren Band bei der französischen Comic-Handelsplattform bd.net bestellen kann, aber Bildbeispiele bietet das Netz tatsächlich gar keine außer dem Cover (in koreanischer Lesart) und einem etwas mehr als einminütigen Video mit dem Titel „Quand le vent se lève“, das bei denkbar schlichter Animation auch nur wieder das Frauenantlitz zeigt, also nichts vom eigentlichen Reiz des Bandes (https://www.youtube.com/watch?v=GeGsW2vQnsM).
Somit muss ich aufs Vertrauen des Publikums in meine Urteilskraft setzen, um den Band anzupreisen. Die Zeichnungen sind meisterhaft, die Grundidee so simpel und dabei überraschend, wie man es sich nur wünschen kann. „Quand le vent se lève“ als Ganzes ist ebenso originell wie poetisch, und ich wäre verblüfft, wenn man von dieser Zeichnerin nicht noch mehr hören würde. Und vor allem sehen.