Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande. Die Prophetin auch nicht. Zumindest nicht, was die Publikation ihrer wegweisenden Werke angeht. So zu belegen am Beispiel der Hamburger Comiczeichnerin Jul Gordon, ohnehin eine der gewitztesten ihres Faches. 2015 war sie mit ihrem noch im Entstehen begriffenen Comic „Der Park“ Finalistin beim Leibinger-Comicbuchpreis, und ein Jahr später war die Geschichte dann abgeschlossen. Kam sie in Deutschland heraus? Nein, aber in Frankreich, zwar nur bei einem Kleinverlag, aber das ist Jul Gordon gewöhnt. Etliche ihrer Comics sind im Eigenverlag herausgekommen, also kleiner als klein.
Dafür indes ist „Der Park“ zu aufwendig. Hundert Seiten umfasst die Geschichte, aber sie liest sich in Windeseile, denn sie lebt vor allem von ihrer Atmosphäre. Dialoge sind spärlich, alle Figurenkonstellationen werden durch Bewegungen im Raum verdeutlicht. Der Raum ist jener Park des Titels, ein ummauertes Rondell, auf dem sich auch mehrere Gebäude befinden. Ein paar weitere sind seitlich an die Mauer angebaut. Es gibt immer wieder Totalen der Szenerie: aus unterschiedlichen Perspektiven und zu wechselnden Tageszeiten. Im und am Park leben vier seltsame Haushalte und eine Kolonie eigentümlicher redender Vierbeiner, Einzelne Figuren tragen Namen, die meisten aber nicht, und gäbe es nicht auf dem Vorsatz eine Art Personenverzeichnis wäre auch die Rekonstruktion der von Gordon gewählten familiären Zuordnung der Akteure schwierig.
Sagen wir es mit einem Reizwort: Dieser Comic ist avantgardistisch. Er verlangt Mitdenken und Kombinationsgabe, aber auch das ist typisch für Jul Gordons Arbeiten. Deshalb ist sie noch nicht bei einem der großen Verlage gelandet. Immerhin hat sich ein wiederbelebter kleiner, der ursprünglich von Anke Feuchtenberger gegründete MamiVerlag in Hamburg, nun des Gordonschen „Parks“ angenommen und ihn mit fünf Jahren Verspätung endlich auf den deutschen Markt gebracht. Wie avantgardistisch er ist, sieht man daran, dass er heute immer noch genauso ungewöhnlich und interessant wirkt. Es ist nie zu spät für gute Comics.
Auf der Website des Verlags kann man sich einen Eindruck von „Der Park“ verschaffen: https://www.mamiverlag.de/p/der-park/. Man sieht spärliche Linienführung, ungewohnt sparsame Wasserfarbenteilkolorierung (die aber auf einzelnen aquarellierten Totalen durch regelrechte Opulenz unterbrochen wird) und eine weitgehend stumme Handlung. Lärm herrscht indes genug am Park. Ein greiser Mann im Rollstuhl ballert auf vorüberfliegende Vögel. Sein Sohn wiederum ballert auf dem Computerbildschirm (oder ist sonstwie in virtuellen Welten versunken; jedenfalls wird er fetter und fetter), während dessen Schwester antriebslos in den Tag hineinlebt. Andere Gemeinschaften bilden sich aus einem Vater und seinen Fünflingen oder durch ein seltsames Paar aus einer Krankengymnastin und einem anthropomorphen Katzenwesen, die sich einen maulfaulen Untermieter ins Haus holen. Und dann ist da noch Tante Theresa, die Schwester des Mehrlingsvaters, die allein im prunkvollsten Gebäude des Parks wohnt. Soziale Schichtung wird sichtbar, aber niemals explizit gemacht. Doch die gezeichnete Welt dieses Parks ist ein so akribisch unserer Wirklichkeit nachempfundener Mikrokosmos wie eine Modeleisenbahnanlage.
Es wird gekidnappt, ja sogar getötet, jeweils ohne großes Aufheben, ja wie nebenbei, aber solche großen Dramen sind gar nicht die eigentlichen. Die spielen sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen ab, die man alle als verheert bezeichnen müsste – bis zum Schluss ganz im Hintergrund eine Begegnung zweier Akteure ins Bild gerückt wird, die einen Hoffnungsschimmer zulässt. Und auf dem hinteren Vorsatzpapier sieht man die beiden dann tatsächlich zu zweit allein in einem Ruderboot auf dem Teich im Park und denkt sich einmal mehr seinen Teil – wie man eben mitdenken muss bei Jul Gordon. Das kann übrigens vom kommenden Frühjahr an auch englischsprachiges Publikum, denn dann wird „The Park“ in einer dritten Sprache herauskommen. Was lange währt, wird hier zwar nicht besser, aber auch kein Jota schlechter.