Warum nicht gleich noch einmal nach Afrika, wo wir doch letzte Woche schon mit „Toubab im Senegal“ waren? Aber es geht einige hundert Kilometer die Westküte entlang nach Südosten, bis nach Liberia. Wie viele Einwohner die dortige Hafenstadt Lagos hat, ist nicht bekannt. Man schätzt deren Zahl auf vierzehn Millionen; auf dem afrikanischen Kontinent wäre sie damit nach Kairo die zweitgrößte Metropole. Und zahllos sind auch die Geschichten, die es aus einem solchen Moloch zu erzählen gibt. Wobei wir Europäer nur wenige davon kennen, und die handeln meist von Gewalt, Korruption oder Umweltverschmutzung. Und wenn uns noch ein Schlagwort generell zu Nigeria einfallen sollte, dürfte es „Boko Haram“ lauten.
In Lagos residiert aber auch ein Goethe Institut, und das hat im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes unterstützten Projekts „Afrocomics“ eine Graphic Novel in Auftrag gegeben: bei Elnathan John, einem renommierten nigerianischen Schriftsteller, und dem in Lagos lebenden Zeichner Àlàbá Ònájin. Als Ortskundige nehmen sie uns in Stadtteile mit, die nicht den Erwartungen eines europäischen Publikums entsprechen. Und das macht den Unterschied zu Patrick Bonatos „Toubab im Senegal“ aus: Hier wird die Perspektive konsequente gewechselt, nicht nur wie beim Schweizer Zeichner Bonato die sonst gängige westliche Betrachtungsweise.
Schon der Titel des nun beim Avant Verlag erschienenen Comics macht es klar: „Lagos – Leben in Suburbia“. Dort in der Vorstadt, in der properen Ayaji Crowther Street, lebt die fünfköpfige Familie Akpoborie. Ihr Haus ist von hohen Mauern umgeben, sie beschäftigt ein Hausmädchen, und die drei mittlerweile erwachsenen Kinder haben eine weitgehend sorglose Jugend hinter sich. Hier wird nigerianisches Bürgertum porträtiert – keine große Gruppe im Land, aber eine, die ihr Leben nach westlichem Standard ausrichtet. Mittlerweile auch in Sachen Liebesleben: Die ältere Tochter Mary ist lesbisch, der Sohn Godstime schwul, die jüngere Tochter Keturah klassisch heterosexuell, aber vorehelich abenteuerlustig.
Alle diese Neigungen treffen bei den Eltern nicht auf Gegenliebe, denn Vater Apkoborie ist Pastor der „Reformed end-time ministries,“ einer evangelikalen Gemeinde in Lagos, die ganz im Banne seiner charismatischen Predigten steht. Allerdings ist er selbst den christlichen Geboten genauso untreu wie seine Kinder, bedenkenlos macht er sich an das junge Hausmädchen heran. Doch seine Gattin, eine Matrone, die zu Hause die Hosen an hat, merkt nichts.
Diese Konstellation mit ihrem sozialen Zündstoff erinnert an brasilianische Telenovelas, und tatsächlich sind diese Soap-Serien in Nigeria sehr beliebt; Elnathan John bekennt sich denn auch offen zu ihren Einfluss auf sein Szenario. Dadurch kommen in „Lagos – Leben in Suburbia“ zwei Erzählformen zusammen: Fernsehserie und Comic, und dass dabei letztere nicht unter die Räder kommt, dafür sorgt Àlàbá Ònájin, der mit „Tim und Struppi“ und „Asterix“ aufgewachsen ist (es hat ihm erkennbar nicht geschadet) und unter deren Einfluss in seinen Bildern von Lagos einen europäischen Look hervorbringt, wie es vor anderthalb Jahrzehnten schon der französische Comiczeichner Clément Oubrerie bei der Umsetzung der von der ivorischen Autorin Marguerite Abouet verfassten Geschichten um das afrikanische Mädchen Aya getan hat. In der Leseprobe des Avant Verlags kann man sich das ansehen: https://www.avant-verlag.de/comics/lagos-leben-in-suburbia/.
„Aya“ war der erste weltweit erfolgreiche Comic, der vom Leben in Afrika erzählte. „Lagos“ hat den Anspruch, der zweite zu werden; auf Englisch kam er schon vor zwei Jahren heraus. Doch die Förderung durch das Goethe Institut hat ihren Preis: Eine überflüssige Reise nach Hamburg ist in die Handlung integriert, und das Ganze geht schon arg harmonisch aus. Aber bis es soweit ist, hat man auf mehr als zweihundert Seiten manches über den Alltag von Lagos erfahren können.
Veranschaulicht wird der über eher beiläufige Aspekte der Geschichte. Da ist etwa das Verständigungsproblem zwischen Yoruba sprechenden Menschen aus der Unterschicht von Lagos und flüssig englisch parlierenden nigerianischen Aufsteigern – noch verschärft durch ein aus nur scheinbar vermittelndes Pidgin. „Nee, ernsthaft, kein Betrug. Alles ganz sauber. Person dey grow pass some things now“, beschwichtigt der bauernschlaue jüngere Bruder des Pastors seine misstrauische Schwester – er sei seiner obskuren Vergangenheit entwachsen. Aber in solchem Aufeinandertreffen von Deutsch und gebrochenem Englisch klafft zu viel auseinander; in der Originalversion des Comics ist der Übergang von sauber gesprochenem zu dialektal gefärbtem Englisch fließend. Man kann der Übersetzerin Lilian Pithan diesbezüglich keinen Vorwurf machen, aber der dialogreich konzipierte Comic büßt in seiner deutschen Version drastisch an Natürlichkeit ein.
Dafür ist das Gemeindeleben von Reverend Apkobories Kirche mit all der Bigotterie ihres Hirten eine Quelle nie versiegenden Vergnügens bei der Lektüre. „Ich erzähl dir mal was von Gott“, protzt der Pastor: „Wenn du erstmal so weit bist wie ich, wird dir die Gnade zuteil, Dinge tu tun, die andere nicht tun können.“ Seine Wunderheilungen jedoch werden auf Bestellung von Kleinganoven gemimt. Und die rechte Hand des Pastors findet dann ausgerechnet über die Liebe zur Tochter seines Chefs zur Befreiung von dessen üblem Einfluss.
Lagos wird in diesem Comic weniger als Millionenstadt, denn als Mikrokosmos rund um die Pastorenfamilie präsentiert. Im Original heißt der Band denn auch weitaus bescheidener „On Ajayi Crowther Street“ – wobei man wissen muss, dass der Namensgeber dieser fiktiven Straße ein nigerianischer Bischof des neunzehnten Jahrhunderts war, der die britische Kolonialherrschaft bekämpfte. Die moralische Diskrepanz zwischen dem historischen Gottesmann und seinem modernen Kollegen Apkoborie ist für nigerianische Leser klar; deutsche hätten da ein Nachwort brauchen können. Aber für einen Einblick ins heutige Nigeria ist dieser Comic allemal gut – zwar nicht jenseits von Klischees, aber ohne solche, die aus „Erster Welt“-Arroganz entstehen. In Nigeria, das zeigt die Lektüre, erzählt man mit einem Unterhaltungsbedürfnis, das dem unseren entspricht. Und dem Klischee von nackter Verzweiflung im dortigen Alltag widerspricht.