Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Japan, comme il faut

Es ist Japanzeit im europäischen Comic. Nicht, weil heute hier so viele Manga gelesen werden – das ist mittlerweile schon seit zwanzig Jahren so. Nein, mit dem italienischen Zeichner Igort gibt es jemanden, der dort gearbeitet, sich in die Kultur des Landes verliebt hat (nicht in die brutale Arbeitskultur der Mangaka, aber in alles andere, auch ins Abgründige) und darüber nimmermüde erzählt. Bei Reprodukt ist gerade der dritte und angeblich letzte Teil seiner „Berichte aus Japan“ herausgekommen, mit denen er sich auf die Spur seiner fernöstlichen Vorbilder begeben hat: „Moga, Mobo, Monster“ lautet der Untertitel. Und diesmal ist das Abgründige besonders prominent vertreten. Ich sage nur: Yoshitoshi, Oder Seiu. Ersterer ist der Meister des Makabren im Holzschnitt, Letzterer der Begründer der japanischen erotischen Fesselkunst.

Aber wir gehen auf Weihnachten zu, und dies hier ist ein braves Blog, also bildet es beides nicht ab und empfiehlt Igorts neue Buch den Liebhabern des Abseitigen und mutigen Beschenkern. Eigentlich soll es auch gar nicht um Igort gehen, sondern um einen weiteren neuen westlichen Japan-Comic: „La jeune femme et la mer“ (Die junge Frau und das Meer), gerade in Frankreich bei Dargaud erschienen und von März 2022 an auch auf Deutsch zu haben. Der Carlsen Verlag hat sich also beeilt, und daran tut er gut. Denn gezeichnet hat den Comic Catherine Meurisse, die dabei ist, zum weiblichen Superstar in Frankreich zu werden. Nein, sie ist es schon; wer als zweite Frau des Metiers nach Claire Brétecher im Centre Pompidou ausgestellt wird, hat den Gipfel bereits erreicht. Und mit „La jeune femme et la mer“ wird sich Meurisses Ruf nur weiter festigen.

Ihr Ruf als exzellente Künstlerin und als große Humoristin. Zunächst zum zweiten Punkt. Catherine Meurisse ist eine sowohl hellsichtige Beobachterin als auch eine souveräne Selbstironikerin. Sie arbeitete für „Charlie Hebdo“ und entging dem Massaker an der Redaktion von 2015 nur deshalb, weil sie zu spät zu der Redaktionssitzung kam, auf der ihre Kollegen ermordet wurden. Danach verließ sie das Magazin und zeichnete „Die Leichtigkeit“: als Verarbeitung des Attentats und ihres Wegs zurück in etwas, das wohl nie mehr als Normalität bezeichnet werden kann. Und man konnte nur staunen: Neben allem Pathos war dieser Comic auch sehr klug. Und witzig trotz dem ernsten Thema. Die Comicwelt lag Meurisse zu Füßen.

Danach kam mit „Weites Land“ eine brillante Geschichte ihrer Jugend, die ein ganzes Panorama französischer Ländlichkeit und Landschaftsmalerei entfaltete, und – bislang leider unübersetzt – „Delacroix“, eine grandiose Hommage an den berühmten Maler, für die sich Meurisse der Erinnerungen von Alexandre Dumas an seinen Freund bediente. Vor allem aber zeigte sie, was sie alles zeichnen kann; Stilprobleme kennt diese Künstlerin nicht. Und nun eben der Japan-Band, beruhend auf einem mehrmonatigen Aufenthalt im Jahr 2018 in der vom französischen Staat mitfinanzierten Künstlerresidenz Villa Kujoyama (Präfektur Kyoto).

Sehnsucht wird wach, wenn man die Impressionen von Meurisse betrachtet, denn nach Japan wird man so rasch in Pandemiezeiten wohl nicht kommen. Und die Bilder dieses Comics (Leseprobe: https://www.dargaud.com/bd-en-ligne/la-jeune-femme-et-la-mer/11016/3137d57fb1513ee7731d7a7a77102263) sprechen von der großen Faszination, die die prominente Stipendiatin dort ergriffen hat. Selbstironisch ist Meurisse wieder; alle Klischees über eine Japanreisende werden hier von ihr bedient, aber auch die Japaner bekommen ihr Fett weg. Zudem bedient sich Meurisse eines Romans von Natsume Soseki, „Das Graskissenbuch“ von 1906, als Inspiration. Und genauso wie in der literarischen Konstruktion mischt sie auch in ihrer Graphik fernöstliche und französische Einflüsse. Gerade die immer wieder eingestreuten ganzseitigen Bilder zitieren die Ukiyo-e-Ästhetik von Meistern wie Hokusai, Hiroshige oder Hasui. Und gleich die Auftaktseite mit der Ankunft der Zeichnerin ist wie aus einem Manga von Shigeru Mizuki entnommen. Das detailreiche Panel ginge aber auch als Filmstill aus einem Anime von Hayao Miyazaki durch. Während die kleinteiliger gebauten Seitenarchitekturen vor allem das große Vorbild Sempé verraten.

Das alles ist derart klug und so scharfsichtig erzählt, dass man nur staunen kann über die Souveränität, mit der Catherine Meurisse hier über Kunst und Literatur verfügt. „La jeune femme et la mer“ ist ein Meisterwerk und ein Meilenstein – nicht nur in ihrem Schaffen. Das steht schon jetzt fest. Die deutsche Ausgabe kann man blind vorbestellen und dann einen Geschenkgutschein unter den Weihnachtsbaum legen. Oder gleich die französische Originalausgabe bestellen, denn schon Hinschauen tut gut. Es gibt auch eine (teure) Vorzugsausgabe, die alle Seiten von Meurisse in Schwarzweiß reproduziert, wodurch ihre Tuschekunst noch besser zur Geltung kommt. Allerdings besteht Gefahr, dass das zugedachte Geschenk dann doch im eigenen Regal landet. Frohe Festtage!