Was heute alles Comic sein will! Vor zehn Jahren musste alles Graphic Novel heißen, doch dann wurde das Bewusstsein dafür geschärft, dass Reisereportagen, Sachgeschichten oder gar Biographien nicht so einfach, wie es das Verlagsmarketing sich vorstellte, unter einem Begriff zu subsumieren war, der übersetzt „Graphischer Roman“ bezeichnete. Auch wenn kaum jemand in der Öffentlichkeit darüber nachdachte – der dummen oder besser gesagt: schlichtweg falschen Anglizismen sind im Deutschen ja kein Ende, siehe nur die bekanntesten Beispiele „Handy“ oder „Home Office“ –, war es manchen Verlegern irgendwann offenbar einfach peinlich. Mit „Comic“ dagegen konnte man ja kaum mehr danebenliegen, seit das langjährige Odium des Komischen oder Kindlichen die Gattungsbezeichnung mittlerweile verlassen hatte.
Doch nun handelte man sich ein neues Problem ein, denn diverses, was als Comic bezeichnet wurde, war gar keiner. Erstaunlich naiv ging auch eine Institution an die Sache heran, die als eine der versiertesten Propagandistinnen des illustrierten Buchs in Deutschland eigentlich wissen müsste, was sie verlegt: die Büchergilde Gutenberg. Neuestes Beispiel dafür ist ein Buch der Mainzer Illustratorin Anna Geselle, das einen der schönsten Titel trägt, die ich seit langem gelesen habe: „Furiositäten“. Allein: „Ein Comic über weibliche Wut“, wie dann der Untertitel lautet, ist es nicht.
Was ist es dann? Inhaltlich zunächst einmal dies: ein zorniges Plädoyer für Gleichberechtigung, was Wut angeht. Allen dürfte klar sein, dass die Wuttoleranz geschlechtsspezifisch ungleich verteilt ist. Bei Männern mag sie zwar nicht zum guten Ton gehören, aber jedenfalls erwartet werden – Kriegertypen eben. Wütende Frauen dagegen gelten als peinlich, ein zorniger Gefühlsausbruch verträgt sich nicht mit dem gängigen Verständnis von Weiblichkeit. Ein weiterer Aspekt von genderspezifischer Klischeebetrachtung – egal, wie man nun zur Wut selbst steht.
Geselle steht ihr sehr positiv gegenüber, wenn man auch manchmal das Gefühl hat, diese Zustimmung gelte vor allem etwas, das ihr und Ihresgleichen gesellschaftlich verwehrt wird. Aber aus Kultur- und Sozialgeschichte führt sie zahlreiche Beispiele der wohltätigen, jedenfalls wirkmächtigen Wut auf, die mit dazu geführt haben, dass es „a man’s world“ ist und eben nicht auch eine für Frauen. Und das tut sie themengerecht furios. Die eigene Wut über die Wutlosigkeit ist spätestens auf der dritten Seite zu sehen, wenn eine gewaltige Sprechblase einen einzigen langgezogenen Wutschrei über diese Benachteiligung loslässt.
„Sprechblase“ – und das soll dann kein Comic sein? Nein, denn diese schreiende Seite ist in ihrer reinen Textlichkeit typisch für das Gros des 170 Seiten starken kleinformatigen Bands. Hier wird vor allem geschrieben erzählt, zwar per Hand, also klassisch gelettert, aber eben unter weitgehendem Verzicht auf Bilder. 28 Seiten sind reiner Text, weitere 46 enthalten nur jeweils ein einziges – meist vignettenartiges – Bild, Panels gibt es kaum. Von den verbleibenden knapp hundert Seiten könnte man wohl auch bei besten Willen nur die Hälfte als comictypisch bezeichnen, also als Darstellungen sequentieller Art, die Text und Bild ineinander greifen lassen. Ist das ein Nachteil für das Ganze, was wir lesen? Nein. Aber ein Comic ist es nicht.
Die Leseprobe ist zwar originell präsentiert, aber leider weder lesefreundlich noch repräsentativ, obwohl auch sie schon ausreichend deutlich zeigen dürfte, wie hier erzählt wird: https://www.buechergilde.de/detailansicht-neue-navigation-2014/items/furiositaeten_173212.html. Sie zeigt auch, dass Geselle, noch keine dreißig Jahre alt, eine eher konventionelle Graphik für ihre Bilder wählt, die aber durch die inhaltliche und stilistische Anknüpfung an die zwei Generationen ältere Amerikanerin Trina Robbins in der besten Tradition feministischer Comics steht. Nur dass „Furiositäten“ eher ein Bilderbuch ist, dass der mittlerweile guten Reputation wegen Comic genannt werden möchte. Geselle selbst gibt in einem Interview (https://siebenaufeinenstrich.de/anna-geselle-im-interview/) als ihre wichtigsten Einflüsse Tattoos, Filmposter, Plattencover und Reklamezeichnungen an, obwohl sie auch auf ihre große Comicsammlung verweist. Aber die Schwierigkeit, sich vom im besten Sinne plakativen Einzelbild zu lösen und auf einen kontinuierlichen Erzählfluss überzugehen, ist in „Furiositäten“ überall sichtbar. Das Thema taugt ja auch schlecht genug für Letzteres. Ist doch ein Wutausbruch im Regelfall auch eine explosive Momentaufnahme, die nicht auf Dauer anhält.
Interessant ist der gelegentliche Einbruch von Farbe in die Ausbrüche. Der Band ist ganz überwiegend schwarzweißgrau, doch es gibt vor allem zu den Enden der vier Kapitel hin jeweils besonders bilderbuchartige Passagen, in denen allerlei sprechendes Personal aus Eiskugeln, Türen oder Fischen auftritt, das gemeinhin nicht als besonders wortmächtig gilt. Nur ist die Verlebendigung von Gegenständen viel eher Trickfilm- als Comicmerkmal. Oder eben eines der Reklame (etwa die Bonduell-Dosen). Das Schöne an „Furiositäten“ ist, dass der Reichtum der Ausdrucksformen von Schrift über Bild bis zu den (wenigen) Comicelementen ganz in den Dienst der grundlegenden Wut gestellt ist. Der Band „soll wütend machen“, wie Geselle schreibt. Das ist viel verlangt angesichts des eingeflossenen Geschicks. Um allein wütend zu werden, müsste sich das Publikum ganz auf den poelmisch-schnoddrigen Inhalt einlassen und die witzige Form vergessen. Dann wäre wieder ein stinknormales Buch die beste Lösung gewesen. Aber man hätte ein interessantes graphisches Experiment verpasst. Auch wenn das nur Comic genannt werden kann, weil es sich selbst so nennt. Und womöglich ist das auch eine Form von Selbstermächtigung. Wütend macht mich diese Eigenzuschreibung jedenfalls nicht.