Der in Berlin arbeitende Zeichner Volker Schlecht ist längst nicht so bekannt, wie es die Präsenz seiner Bilder in Publikationen aller Art – Zeitschriften, Zeitungen, Büchern, jeweils auch international – vermuten ließe. Kein Wunder, publiziert er doch seit zwanzig Jahren vor allem unter dem Namen Drushba Pankow. Das ist die Bezeichnung einer früheren Ateliers- und immer noch über Distanz existierenden Arbeitsgemeinschaft, die neben Schlecht noch Alexandra Kardinar umfasst, ihres Zeichens Professorin für Illustration an der HAW Hamburg, dem akademischen Mekka des deutschsprachigen avantgardistischen Comics. An dem Comic jedoch, um den es hier gehen soll, ist nichts Avantgardistisches.
Doch dazu später. Erst einmal zum Thema des Comics, der sich als Graphic Documentary versteht, also als dokumentarisches Äquivalent zu einer Graphic Novel, deren Bezeichnung ja etwas Fiktionales verheißt. Der Titel verrät, was in Drushba Pankows jüngstem Buch (das übrigens so jung nicht mehr ist, denn es kam bereits vor zweieinhalb Jahren heraus, wird aber gerade mit einer Ausstellung im Frankfurter Haus am Dom gewürdigt, zu dem es auch einen materialreichen Katalog gibt: „Zeichnung und Verantwortung“, Laufzeit bis in den April hinein) Thema ist: „Und wenn die Wahrheit mich vernichtet – Pater Richard Henkes im KZ Dachau“. Der katholische Priester Henkes war 1943 nach regimekritischen Predigten in Schlesien von der Gestapo verhaftet worden; im Februar 1945 starb er im Konzentrationslager Dachau an Typhus, nachdem er sich seelsorgerisch um andere dort erkrankte Häftlinge gekümmert hatte. Vor zwei Jahren wurde Henkes seliggesprochen; aus diesem Anlass gab das Bistum Limburg, in dem Henkes geboren und ordiniert wurde, bei Drushba Pankow den Comic in Auftrag.
In einer Zeit, in der die katholische Kirche nur zu negativen Schlagzeilen zu taugt, ist die Erinnerung an ein Überzeugungsopfer wie das von Richard Henkes zumindest tröstlich. Zumal es im Comic nicht nur um ihn geht, sondern auch noch um andere von den Nazis festgenommene, bisweilen auch im Lager zu Tode gekommene Priester geht. Aus Dachau allein, das allerdings auch Schwerpunktlager für Geistliche war, sind mehr als 2700 inhaftierte Priester bekannt; etwas mehr als tausend von ihnen starben dort. Schlecht integriert diese Statistik wie einen Infokasten in sein knapp vierzigseitiges Album; und es gibt auch Landkarten, um neben der hochemotionalen Kernerzählung auch sachliche Fakten zu bieten. Der Comic enthält zum Abschluss noch einen langen Anhang mit Nachweisen für all das, was er erzählt hat.
Von einer guten Sache in schlimmer Zeit erzählt er. Das Leben des 1900 geborenen Henkes wird vom Ersten Weltkrieg an erzählt, in dem er zu seiner spirituellen Berufung fand. Eingebettet ist das Geschehen in eine Rahmenhandlung um ein Ehepaar, das anlässlich des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963 miteinander über Henkes spricht, den der Ehemann im Konzentrationslager kennengelernt hatte, wo er als junger Offizier eingesetzt war. Man mag die durch die damalige Begegnung später ausgelöste Läuterung des Nazis unmotiviert finden, geschickt ist dieser narrative Ansatz allemal, weil er uns Normallesern nicht nur einen Heiligen, sondern auch einen Sünder zu bieten hat.
Drushba Pankow ist bekannt für expressiv-realistische Bilder und bunte Farben; ihr erster Comic, eine Adaption des „Fräuleins von Scuderi“ von E.T.A. Hoffmann, war vor neun Jahren ein regelrechtes Farbspektakel. Keine Rede davon mehr in der gezeichneten Henkes-Dokumentation. Ursprünglich wollten Kardinar und Schlecht sie sogar schwarzweiß belassen, doch dann schien ihnen das zu nostalgisch-plakativ. Das jetzige Resultat ist eine graublau getönte triste Lagerwelt, in der Rot (für den Winkel auf der Häftlingskleidung des aus politischen Gründen verhafteten Henkes und auch für das Blut, das im Lager fließt, aber zugleich in einer wiederholten Bildmetapher als Blutkreislauf die Energie des Priesters betont) der einzige markante Farbakzent ist. Eine Anschauung gibt die Homepage des Pallotti-Verlags, in dem der Comic erschienen ist: https://www.pallottiner.org/publikationen/und-wenn-die-wahrheit-mich-vernichtet_schuelerausgabe/und-wenn-die-wahrheit-mich-vernichtet_schuelerausgabe_blick-ins-buch.pdf. Die Pallottiner sind die katholische Seelsorgegemeinschaft, der Henkes angehörte.
Es sind vor allem die dramatischen Perspektivwechsel von Panel zu Panel, die aber immer wieder eingebunden sind in seitenübergreifende Raster, etwa von Gitterstäben oder Lagergebäuden, die an diesem Comic auffallen. Schlecht ist ein architektonisch denkender Zeichner, in buchstäblichem wie übertragenem Sinne, wie man am Titelbild sehen kann, das aus zwei übereinander gestellten Porträts von Henkes besteht, die den Pater jeweils in derselben Pose und dramaturgischen Konstellation zeigen – nur dass er oben in Soutane vor seiner Gemeindekirche steht und darunter in Häftlingskleidung vor Stacheldraht und Wachturm. Volker Schlecht ruft die Bildervorräte unseres kollektiven Gedächtnisses zur NS-Zeit ab, liefert aber gleichzeitig eine Vielzahl von den meisten sicher unbekannten Details zum Ausnahmezustand des Lageralltags. Und wie gesagt: alles genauestens recherchiert.
Natürlich misst man das Ergebnis am unerreichbaren Vorbild von Art Spiegelmans „Maus“. Aber das ist unfair, denn die persönliche Komponente von Spiegelmans Mischung aus Autobiographie und Geschichtsbuch kann „Und wenn die Wahrheit mich vernichtet“ gar nicht leisten. Eine Seligenvita ist per definitionem keine normale Biographie; sie gehorcht den Gesetzen des entsprechenden kirchlichen Verfahrens. Doch wer meinte, ihn erwartete hier ein unkritisches Werk, der irrt. Denn Henkes selbst zweifelte viel zu sehr an sich und an der Welt, als dass sein Leben und Sterben eine reine Heldengeschichte ergeben könnte. Es ist der Bericht über einen selbstlosen Mann. Das ist mehr als genug.