Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Nichts davon mag ich eigentlich, aber alles zusammen ist großartig

Bisweilen trifft eine Comiclektüre genau den richtigen Moment: genauer gesagt einen späten Abend, als die Konzentration zum Schreiben weg war, aber die aufgelegte Musik noch lief und es also zu früh zum Schlafen war. Gute Zeit zum Hineinblättern in einen frisch eingetroffenen Band von Carlsen, einen Manga. Japanische Comics lesen sich schnell, und nach ein paar Dutzend Seiten weiß ich, ob sich für mich das Weiterlesen lohnt. Also eine Viertelstunde Lektürebudget für „Asadora!“ bewilligt.

Es wurden anderthalb Stunden, und es werden noch viel mehr werden, denn der Band ist Auftakt einer ganzen Serie. Die wird, wenn man die paar farbigen Seiten zum Auftakt des Ganzen richtig deutet, die Lebensgeschichte von Asadora erzählen, eines kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in eine kinderreiche japanische Familie hineingeborenen Mädchens. Sind die ersten Seiten noch 2020 angesiedelt (was im Erscheinungsjahr des Originals in sehr naher Zukunft lag und nun auf Deutsch in sehr naher Vergangenheit) und zeigen eine katastrophale Feuersbrunst in Tokio samt der unheimlichen Silhouette eines riesigen Monsters im Rauch, springt dann im restlichen Schwarzweißteil des Mangabandes alles fast sechzig Jahre zurück, ins Jahr 1959 nach Nagoya, in dem gerade ein Orkan tobt. Mitten drin die damals noch kleine Asadora.

Aber nicht lange mittendrin, denn ein heruntergekommener Mann verschleppt sie, weil er in ihr fälschlicherweise das Kind wohlhabender Leute vermutet und Lösegeld erpressen will, um sich eine Fluglizenz leisten zu können. Wer kurzfristig Kindesmissbrauch als Motiv befürchtet haben sollte, kann also aufatmen; beim Kidnapper handelt es sich um einen japanischen Weltkriegsveteranen, der sich nur in der Pilotenkanzel zu Hause fühlt.

Ich mag keine Fliegercomics, ich mag keine Erzählungen, wo sich alte Männer und junge Mädchen zusammenraufen, ich mag auch keine endlosen Mangaserien. Immerhin kannte ich den Schöpfer von „Asadora!“, Naoki Urasawa, als einen Zeichner, der nicht nur ein vieltausendseitiges Werk namens „20th Century Boys“ geschaffen hat (mit dem ich nicht warm wurde) , sondern vor einigen Jahren auch ein Motiv des Manga-Gottes Osamu Tetsuka zu einer originellen eigenen Miniserie (so etwas mag ich) gemacht hatte: „Pluto“, bei der Tetsuka immer noch als Szenarist genannt wurde, obwohl er längst tot war. Urasawa versteht es, seine Meister zu ehren.

Und bald merkt man, dass er im ersten Band von „Asadora!“ von einem Meister erzählt, obwohl der zerlumpte, vom Leben gezeichnete Entführer namens Kasuga zunächst nicht einmal den geringsten Anschein erweckt, mehr zu sein als ein Loser. Doch dann löst der Orkan eine Flutwelle aus, die Nagoya überschwemmt, und plötzlich sehen sich Entführer und Entführte gemeinsam einer humanitären Notlage gegenüber, bei der es ja nach eigenen Fähigkeiten anzupacken gilt – Asadora kann wie der Wind laufen, Kasuga wie der Teufel fliegen.

Und Urasawa kann zeichnen wie nur wenige. Um nicht zu sagen, wie derzeit kein anderer Mangaka, nämlich nur in Maßen expressiv – in jenen Maßen, die für einen westlich sozialisierten Comicleser wie mich seine Geschichte höchst attraktiv machen. Leider ist der japanische Lizengeber prohibitiv, was leseproben angeht; am besten kann man sich noch mittels eines kurzen Films über die französische Ausgabe von „Asadora!“ (https://www.kana.fr/produit/asadora-t1-2/) einen Eindruck seines Stils verschaffen. Erzählen kann Urasawa aber auch, und zwar mit allen Tricks: Zeitsprüngen, Parallelisierungen, Digressionen, Ellipsen. Und mit Cliffhängern. Selten hatte ich einen besseren als am Ende des ersten Bandes von „Asadora!“. Und deshalb weiß ich auch schon, dass ich weiterlesen werde.

Denn diese Alter-Flieger-trifft-junges-Mädchen-Manga-Großserie, die mit dem Ende des ersten Bandes gerade mal am nächsten Tag der Handlung angekommen ist, obwohl die eine mehr als sieben Jahrzehnte umfassende Lebensgeschichte erzählen will (und in Japan nach bislang sechs erschienenen Bänden noch mittendrin steckt), ist erstaunlicherweise genau, was ich mag. Auch deshalb, weil ich zwar comicliterarisch westlich sozialisiert bin, aber mythisch-ästhetisch-mentalitätsmäßig japanische Präferenzen habe. Und da hat „Asadora“ unheimlich viel zu bieten. Etwas von dem zu verraten, was sich bereits über den Fortgang der Geschichte andeutet, würde just den Reiz nehmen, den das Buch bei mir entfaltet hat. Nur so viel: Wenn man sich das Titelbild mit seinen wie fernostalgische Schnappschüsse arrangierten anheimelnden Bildern ansieht, wird man auf eine ganz falsche Spur gesetzt. Hier werden wir nämlich nicht in eine Ozu-Welt entführt, sondern in eine von Honda. Aber das muss nun wirklich reichen, inklusive des mutmaßlichen Missverständnisses bei Nennung des Namens „Honda“.