Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Bei diesem Band geht es ums nackte Leben

Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle einen kleinen Einblick in meine Comicregale gewährt, als ich auf die Heftproduktionen von Aisha Franz zu sprechen kam. Die stehen, formatbedingt, in einem niedrigen Fach ganz unten. Diesmal wanderte mein Blick einen Raum weiter an den Regalen ganz hoch, zu den italienischen Comic-Autoren und speziell zu Gipi. Ich kam ins Staunen, wie viel da steht. Und umso mehr staunte ich, dass „Una storia“ noch nicht darunter war.

Nicht als Übersetzung, die ist nämlich ganz neu, gerade bei Avant, der deutschen Heimat von Gipis Comics, erschienen, in der gewohnt eleganten Übertragung von Myriam Alfano, die sich zur Stammkraft entwickelt hat, wenn es um italienische Comicmeisterwerke geht, die ins Deutsche gebracht werden sollen (von Igort, Alessandro Tota, Manuele Fior oder eben Gipi). Aber als ich „Eine Geschichte“, wie der Titel in unserer Sprache lautet, aufschlug, sah ich, wann das Original erschienen ist: 2013. Habe ich wirklich neun Jahre lang auf einen wichtigen Gipi-Band gewartet, ohne ihn zumindest auf Französischen zu kaufen (das ich besser lese als Italienisch)?

Offenbar ist dem so, es gibt keine Spur von „Una storia“ in dem runden Dutzend Gipi-Comics oben im Regal. Dabei ist dieser Band selbst im Vergleich mit „Nachtaufnahmen“ (Gipis erstem erfolgreichen Buch von 2003, übersetzt 2005), „5 Songs“, „S“ oder „Die Welt der Söhne“ ein Ausnahmefall. Denn noch konsequenter als andere seiner Comic vereint „Eine Geschichte“ alles, was Gipi beherrscht – und das ist viel. Der Mann kann malen, zeichnen sowieso (und zwar sowohl in kargem Schwarzweiß als auch mit opulenten Farben) und vor allem erzählen. Letzteres tut er so persönlich, dass man bei jeder Geschichte Autobiographisches im Hintergrund vermuten möchte. Und allemal bei „Eine Geschichte“, die von einem Autor in der Midlife-Crisis erzählt.

Gipi, eigentlich Gian Alfonso Pacinotti (Gipi steht für die italienisch-phonetische Aussprache von G.P.), ist Jahrgang 1963, war also bei Erscheinen von „Una storia“ exakt so alt, wie Silvano Landi, der Protagonist dieses Comics. Den hat seine Frau verlassen, zur gemeinsamen Tochter gibt es auch nicht mehr viel Kontakt, und zu allem Überfluss läuft Landi eines Nachts nackt und orientierungslos durch die Gegend, was ihn in die Psychiatrie bringt. Wie es ihm dort er- und wie man mit ihm umgeht, kann man in der deutschen Leseprobe verfolgen: https://www.avant-verlag.de/comics/eine-geschichte/#cc-m-product-9100721620, die dann auch jenes Potpourri an Zeichenstilen dokumentiert, das Gipi hier zur Anwendung bringt.

Selbstverständlich haben alle diese Stile jeweils eine narrative Funktion. Schwarzweiß, bisweilen blau angefärbt, wenn’s um die traurige Gegenwart geht, während die prachtvoll aquarellierten Farbräusche den Erinnerungen von Landi entstammen – und wenn sie später kalt und grau werden, dann sind wir in der Zeit des Ersten Weltkriegs angelangt, als der Urgroßvater des nervolabilen Autors in den Schützengräben kühlen Kopf bewahrte und sich aus einer aussichtslosen Situation rettete. Die Briefe dieses Vorfahren an dessen Frau hat Landi gelesen, und er wollte eine Geschichte daraus machen. Und siehe da: Wir lesen sie in Gipis „Eine Geschichte“.

Solche metafiktionalen Tricks sind ein alter Hut, aber Gipi überrascht gerade dadurch immer wieder aus Neue, dass man glaubte, er hätte alles an jugendlicher Tristesse und Aufmüpfigkeit schon woanders auserzählt, und dann kommt er plötzlich mit diesem desillusionierenden Porträt eines Fünfzigjährigen, das aber wieder neue Facetten der Jugend zur Sprache bringt.  Als starke Bildmetapher steht ein Baum im Zentrum des Comics; als Symbol für die Verwurzelung in der Familie, aber auch des (Über-)Lebens im Krieg, denn der Baum ist die einzige noch sichtbare Wegmarke im plattkartätschten Niemandsland zwischen den Fronten. Natürlich denkt man an Jacques Tardi bei diesem Flashback über hundert Jahre hinweg, und Gipi macht in seiner Seitenarchitektur und dem Panelaufbau auch gar kein Hehl aus diesem Einfluss. Noch mehr aber hat er von Lorenzo Mattottis „Feuer“ gelernt. Und doch ist da eine ganz eigene Bildersprache in „Una storia“, die daraus resultiert, dass Gipi ganz anders als die beiden Altmeister den Fokus auf Dialoge und Monologe legt, die psychologischen Verismus anstreben und nicht wie bei Tardi und Mattotti entweder Genre- oder Poesieerwartungen erfüllen sollen. Und wieviel von ihm selbst in diesem Album steckt, das zeigt die Abschluss-Signatur auf der letzten Seite, wo als Entstehungszeitpunkt der „Geschichte“ 1963 bis 2013 angegeben ist. Also Gipis ganzes Leben.

Gipi ist in Deutschland bekannt (den Max-und-Moritz-Preis des Comicsalons von Erlangen erhielt er bereits für seinen zweiten übersetzen Comic, „Die Unschuldigen“, im Jahr 2006, als er gerade auch einen Hauptpreis in Angoulême zugesprochen bekommen hatte), aber nicht durchgesetzt. Umso bemerkenswerter ist die Treue von Avant zu diesem Ausnahmeerzähler. Dass nun sogar die älteren Hauptwerke nachgereicht werden, ist ein großes Glück. Wenn auch Pech fürs italienische Regal-Segment; da wird nun etwas weichen müssen. Aber kein Millimeter Gipi wird preisgegeben!