Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Sex moves

Eine Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn? Derzeit wohl nicht sehr wahrscheinlich. Aber natürlich ein Sehnsuchtsmotiv aller Eisenbahn- und Einsamkeitsfreunde. Wobei Bernadette Schweihoff beides nicht ist. Es ist ihr Freund, der ihr so lange mit der Idee in den Ohren gelegen hat, bis sie endlich zustimmte. Und das hat sie getan, weil sie sich mit ihm zusammen am glücklichsten fühlt – vor allem in der wechselseitigen sexuellen Verwirklichung. Also nix mit Einsamkeit. Warum das hier erzählt wird? Weil es zentral für den Comic „Treiben – Unterwegs mit der Transsibirischen Eisenbahn“ ist. Der Haupttitel ist eindeutig zweideutig.

Es geht wild zu in Sibirien; der Schnee treibt. Aber noch wilder geht es zu im Abteil, da treiben es die Ich-Erzählerin und ihr Freund, gerne direkt vor dem Fenster: Die Lust am Risiko der Überraschung des Paars durch Schaffner, Passagiere, Passanten (Letztere natürlich nur während der – allerdings stundenlangen – Aufenthalte an Bahnhöfen) ist spür- und sichtbar. Dadurch ist der Comic viel mehr Psychogramm als Reisereportage, obwohl Bernadette Schweihoff großartige Landschaftspanoramen zeichnet (hier anzusehen: https://www.editionmoderne.ch/buch/treiben/) und auch Innenansichten des Zuges, die einen buchstäblichen mitnehmen in die Enge des Abteils oder der Waschräume. Und bisweilen geht es hinaus in die Kälte, denn die Fahrt wird im Winter gemacht. Dementsprechend leer ist der Zug und lang sind die Nächte – ganz so wild auf Entdeckung ist das verliebte Paar also wohl doch nicht.

Nun eine Warnung für Voyeure: Es geht zwar zur Sache, aber das Sexuelle spielt sich vor allem im Kopf ab. Und so bekommen wir auch einen Einblick in (weniger Anblick von) Obsessionen, die in der Berliner Clubszene ihren Ausdruck finden, namentlich den KitKatClub. Zugeschrieben ist der Comic „allen, die in meine Welt eintauchen wollen“, und in der rücksichtslosen Offenheit sich selbst gegenüber merkt man den Einfluss von Ulli Lust an, die nicht nur den Band als Bachelorarbeit betreut, sondern auch mit „Der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ das Muster für diese Art von autobiographischer Freiheit vorgegeben hat.

Verlegt worden ist der Band bei der Edition Moderne, und das nach Matthias Gnehms Comic in der vergangenen Woche nun schon wieder ein  Produkt dieses Hauses hier vorgestellt wird (wenn auch nach monatelanger Inkubationszeit), liegt daran, dass auch Schweihoffs „Treiben“ eine kongeniale Form gefunden hat, die sich den Verlagschefs und -gestaltern Claudio Barandun und Julia Marti verdankt – bis hin zur Klappe, die das ganze Werk einhüllt wie ein Cache-sexe (dies allerdings wohl eher ungewollt). Und der Titelschriftzug „Treiben“ ist mit Glanzprägung derart versehen, dass man durch die selbst wie verweht gestaltete Typographie auf eine schillernde Schneefläche zu schauen scheint.

Viele Wort werden nicht gemacht in „Treiben“. Viele stimmungsvolle Bilder schon, gehalten in kalten , meist monochromen Buntstiftzeichnungen. Und damit erzählt Bernadette Schweihoff denn doch auch einiges über Russland, wenn auch aus einem Abstand von mehr als drei Jahren zur damaligen Reise. Und sei es nur das Erstaunen der Russen, mit denen die beiden Reisenden im fernen kalten Osten sprechen, darüber, dass zwei Berliner sich freiwillig dorthin begeben. Man wolle doch eher nach Berlin. Diese Sympathie macht allerdings keine Hoffnung im Hinblick auf die Gegenwart. Enttäuschte Träume sind ein Treibsatz für Kompensation. Schön also, dass sich für Bernadette Schweihoffs Partner der eigene Eisenbahntraum erfüllt hat.