Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Körperhorror und Psychoterror

Wie steht es um die längsten Wartefristen auf die Fortführung des Werks berühmter Comickünstler? Gut, niemand weiß, wie lange wir wirklich auf die Fertigstellung von Hergés „Alpha-Kunst“ hätten warten müssen, wenn der Vater von „Tim und Struppi“ nicht nach acht Jahren Arbeit daran gestorben wäre. Und André Franquin hatte zwar nach 1968 bis zu seinem Tod fast dreißig Jahre lang kein eigenes Album mit einer ganzen Geschichte mehr gezeichnet, doch immerhin trat er immer wieder mit Einzelepisoden von „Gaston“ oder später den „Schwarzen Gedanken“ hervor und schrieb für andere Zeichner längere Szenarios. David Mazzucchelli wiederum ließ zwischen „City of Glass“ und „Asterios Polyp“ fünfzehn Jahre verstreichen und scheint gerade einen neuen Anlauf zu einer Rekordwartefrist zu nehmen, denn das Publikationsdatum letzteren Bandes liegt heute auch schon wieder dreizehn Jahre zurück, ohne dass etwas Neues in Sicht wäre. Und dann Julie Doucet, die anno 2000 verkündet hatte, Comics zu zeichnen, und erst im vorvergangenen Jahr diesem Vorsatz wieder untreu wurde. Das ist Rekord, soweit ich es sehe.

Gesetzt hatte ich allerdings eher auf Barry Windsor-Smith. Auf dessen vielbeschworenen Band „Monsters“ warteten seine Anhänger noch viel länger; nämlich schon seit 35 Jahren, als ruchbar geworden war, dass der amerikanische Superheldenzeichner an einer neuen Ursprungsgeschichte für die populäre Marvel-Figur The Incredible Hulk schrieb, die als Quelle für dessen fabelhafte Kräfte ein bestialisches Menschenexperiment der Nazis etablieren wollte. Der Comic erschien indes nie, und von Windsor-Smith war seit 2005 auch nichts mehr zu lesen. Damals war „Wildstorm Rising“ herausgekommen. Doch er brachte es dann nur auf eine Pause von sechzehn Jahren, denn im vergangenen hat Windsor-Smith tatsächlich „Monsters“ fertiggestellt und beim amerikanischen Verlag Fantagraphics veröffentlicht. Darin ist jedoch vom Hulk nur noch die unförmige Gestalt des Protagonisten Bobby Bailey übriggeblieben.

Der ist ein Monster, wie man es sich vorstellt, und ganz in der frankensteinschen Tradition auch eine tragische Figur: Waisenkind und als Erwachsener missbraucht von der amerikanischen Armee, die bis in die sechziger Jahre hinein fortführt, was die Nazis im Zweiten Weltkrieg begonnen hatten, kräftig unterstützt dabei von einem gewissen Oskar Friedrich, den man aus seinem deutschen Höllenlabor über den Atlantik gebracht hat, wo er dann Karriere machen wird – Ähnlichkeiten zu Biographien bedeutender Wissenschaftler in den Nachkriegszeit sind keineswegs zufällig. Auch Friedrich ist ein Monster, allerdings im moralischen Sinne, aber das ist für Windsor-Smith die viel monströsere Deformation, und an ihr leiden diverse Figuren seiner Geschichte. Der deutsche Titel „Monster“ bringt das im Gegensatz zum Original leider nicht zum Ausdruck, weil unsere arme Sprache für den Plural dieses Worts nicht einmal ein „s“ übrig hat. Man könnte meinen, es ginge nur um das eine Monster, und die abstoßende Coverzeichnung verstärkt diesen Eindruck.

Immerhin mag sie als Warnung dienen: Wer schwache Nerven hat oder auch einen schwachen Magen, der spare sich die Lektüre dieses mehr als dreihundertsechzigseitigen Exzesses, in dem elichen Menschen denkbar übel mitgespielt wird. Es beginnt gleich mit einer familiären Kindesmisshandlung in einer Kleinstadt im Bundesstaat Ohio im Jahr 1949, deren Opfer der damals neunjährige Bobby Bailey ist, dessen beide Eltern da noch leben (aber nicht mehr lange). Die Leseprobe (https://www.cross-cult.de/titel/monster.html) zeigt die immense Sorgfalt, die Windsor-Smith seinen Schwarzweiß-Tuschezeichnungen angedeihen ließ, aber irgendeinen Grund müssen sechzehn Jahre Arbeit ja gehabt haben. Wobei es auch längere Verschnaufpausen gegeben haben mag, um sich selbst vom geschilderten Psychoterror zu erholen. Oder um weitere Steigerungen von dessen Intensität auszuhecken, denn eines kann man offen sagen: Es wird den Beteiligten immer schlimmer mitgespielt, obwohl es schon ziemlich schlimm losgeht.

Wobei ein weiterer Grund für die verschleppte Fertigstellung gewesen sein mag, dass 1997 schon ein anderer Comic erschienen war, der in seiner inhaltlichen und graphischen Drastik manches vorwegnahm, was Windsor-Smith plante: „A History of Violence“ von John Wagner und Vince Locke, berühmt geworden durch David Cronenbergs spätere Verfilmung, die aber gegen das gezeichnete Original ein Wiegenlied ist (und das bei einem Meister des body horror wie Cronenberg!). Man kann schwer umhin, bei der Lektüre von „Monsters“ nicht daran zu denken, und so dürfte es Windsor-Smith auch gegangen sein. Zumal beide Comics psychoterroristische Porträts von Familien bieten. Bei Wagner und Locke allerdings kommt der Schrecken von außen, damit die Familie gegen ihn antreten kann, während Windsor-Smith alles heimelig Familiäre bei den Baileys kollabieren lässt, nachdem erst das Böse be ihnen eingedrungen ist.

Was wäre indes ein amerikanischer Comic ohne ein Hohelied auf die Familie? Also gibt es auch noch die McFarlands, eine schwarze Familie aus Los Angeles, die unglücklich ins Elend der Baileys verstrickt ist. Mit ihnen kommt ein übersinnliches Element ins Spiel, das zu einer erstaunlichen Schlusspointe führt. Man mag sie tröstlich nennen, aber zuvor sind auch zu viele Rachephantasien ausgelebt worden, als dass der metaphysische Schluss noch als happy ending durchgehen könnte.

Man merkt Windsor-Smiths moralischem Kompass die narrative Herkunft aus dem Superheldengenre jederzeit an. Wie auch die ästhetische Herkunft aus den siebziger Jahren, als Kollegen wie Bernie Wrightson oder Moebius die Zeichenkunst der Comics auf ein nie zuvor gekanntes technisches Niveau führten. Dadurch wirkt Windsor-Smiths „Monster“ heute aber wie aus der Zeit gefallen, und auch die Klischees der Handlung entsprechen genau denen, die damals üblich waren. Der Vietnam-Krieg hatte dystopische Stoffe populär gemacht, und an die amerikanische Unschuld glaubte niemand mehr, nicht einmal im Comicgeschäft. Ein halbes Jahrhundert später wirkt das nun eher anachronistisch.

Trotzdem hat der Verlag Cross Cult eine Herkulesleistung mit der deutschen Publikation vollbracht: kiloschwer, Überformat, sogar ein – hier sehr sinnvolles – Lesebändchen. Schon der Übersetzungsaufwand des arg geschwätzigen Comics war enorm, und zudem gibt es im Original etliche deutsche Textpassagen, die hier natürlich nur durch typographische Markierung angedeutet werden konnten. Dabei hatte Windsor-Smith doch ganz zu Beginn noch die wunderbare Idee, Bobbys gewalttätigen Vater in Frakturausschnitten brüllen zu lassen, um dessen Traumatisierung durch seine Erlebnisse als amerikanischer Soldat im Deutschland anzudeuten. Aber wer könnte schon darauf setzen, dass Leser in den Vereinigten Staaten ganze Dialoge in Fraktur lesen würden (und heute würde das wohl auch etlichen hiesigen Lesern Probleme bereiten; erstaunlich, dass dieser Kunstgriff bei „Asterix und die Goten“ immer noch beibehalten wird), also wird diese auch graphisch brillante Idee leider bald wieder aufgegeben.

Die Schneelandschaften des winterlichen Ohio im Jahr 1965 sind meisterlich ins Bild gesetzt, und auch den düsteren Bildern kann man die Qualität nicht absprechen, aber über die Handlung sollte man lieber nicht zu genau nachdenken. Dafür, dass sich die deutsche Übersetzung am Schluss einmal drastisch mit dem Datum des Geschehens vertut, kann Windsor-Smith zwar nichts, aber dass er die 1945 in Deutschland spielende Passage seines Comics im Juni ansiedelt, als Hitler schon einen Monat tot war, aber im Comic immer noch Nazi-Größen nach einem Führerbefehl handeln wollen, weil sie in der Ortschaft Schongau noch nicht von der US Army überrollt worden sind, das ist einfach nur sinnloser Quatsch. Auch andere chronologische Fehler kann man finden, bei denen sich nicht einmal die Frage nach Plausibilität stellt. Da nahm sich jemand sechzehn Jahre Zeit für seine Geschichte und produziert dann einen derartigen völlig unmotivierten Humbug. Liest niemand mehr Korrektur in den Comicverlagen dies- und jenseits des Atlantiks? Aber wahrscheinlich wollte man die Wartezeit nicht noch einmal verlängern. Schade, es wäre eine plausiblere Geschichte herausgekommen. Und womöglich ein neuer Wartewelrekord.