Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Russisch für diese Zeit

Nun könnten manche meinen, es ginge doch nicht an, in diesen Tagen einen russischen Comic zu lesen, geschweige denn zu loben. Zumal ich meiner Erinnerung nach noch nie einen russischen Comic gelesen habe, warum also ausgerechnet jetzt? Weil er genau über das Auskunft gibt, was wir gerade aus der Ukraine hören. Nicht politisch, nicht militärisch, aber menschlich. Es wird entsetzlich gelitten im Krieg, und genau davon erzählt der russische Comic „Surwilo“. Und nicht nur davon.

Aber erst einmal zurück: Wie kommt dieser Comic auf meinen Schreibtisch? Na ja, er ist von Avant, und dieser Verlag hat ein Händchen für Entdeckungen aus Kulturen, die nicht unbedingt als Erste in den Sinn kommen, wenn es um Comics geht. Von Avant habe ich schon phantastische südafrikanische Comics gelesen, norwegische, lateinamerikanische. Und jetzt kam „Surwilo“ von Olga Lawrentjewa. Warum nicht mal ein russischer Comic? So dachte ich, als er irgendwann vor dem 24. Februar bei mir eintraf. Und ehe er danach mit diversen anderen Büchern wochenlang unbeachtet liegen blieb, weil meine Aufmerksamkeit in Kriegszeiten anderswo gefragt war.

Neugierig auf „Surwilo“ wurde ich erst wieder, als die Nachrichten über die Ächtung russischer Kultur gar kein Ende mehr nehmen wollten. Und zu meinen Bildungserlebnissen zählen nun einmal zahlreiche russische Kulturleistungen, wenn auch nicht auf dem Feld der Comics. Bunin, Tschechow, Prischwin, Tolstoi, Babel in der Literatur. Tschaikowsky, Mussorgsky, Strawinsky, Rachmaninow, Schostakowitsch in der Musik. Repin, Kandinsky, Malewitsch, Exter, El Lissitzky in der Malerei. Sie alle haben mich nicht zum Russophilen gemacht und schon gar nicht zum Putinversteher, denn Kunst, die mir etwas bedeutet, öffnet die Welt, statt sie derart zu verschließen, wie es der russische Nationalismus und sein aktueller Adept an der Staatsspitze betreiben.

„Surwilo“ öffnet erst einmal die Augen und dann die Welt. Olga Lawrentjewa wurde 1986 in Leningrad geboren, und man darf in dem Mädchen, das in der Rahmenhandlung des Comics im Jahr 1997 mit ihrem Bruder und ihrer Großmutter auf Pilzsuche durch die Wälder streift, wohl die Autorin selbst erkennen, denn im Laufe der Erzählung wird sie später als junge Frau aufgefordert, all das in einem Buch festzuhalten, was die Großmutter ihren Enkeln bei den Streifzügen erzählt. So entwickelt sich die Familiengeschichte der Surwilos.

Wincenty Surwilo kam Ende des neunzehnten Jahrhunderts im überwiegend polnisch bewohnten Dorf Surwily zur Welt, das heute in Belarus liegt. Nach der Oktoberrevolution heiratete er eine Russin, mit der er vier Töchter hatte, von denen die beiden älteren noch im Kleinkindalter starben. Die jüngste Tochter wurde 1925 geboren und nach der toten Ältesten benannt: Walentina. Gemeinsam mit ihrer Schwester Jelena erlebte sie eine glückliche Kindheit, bis der Vater 1937, dem Jahr des Höhepunkts des Großen Terrors, als polnischer Verschwörer verhaftet und hingerichtet wurde. Aber von seinem Tod erfuhren seine Witwe und die beiden Töchter nichts.

„Surwilo“ erzählt von Walentina, und Walentina erzählt „Surwilo“. Lawrentjewa hat dafür eine eindrucksvolle Schwarzweißästhetik (Leseprobe unter https://www.avant-verlag.de/comics/surwilo/#cc-m-product-9100687520) entwickelt, in deren expressiven Seitenarchitekturen sich alles mischt: Stile und Personen, Realismus und Surrealismus, Wahrheit und Traum, Gut und Böse. Sie versteht sich auf die Kunst des Weglassens wie in jener Szene, in der Walentina als Krankenschwester während der deutschen Belagerung Leningrads die gefrorenen Leichen ihres Hospitals in einem Schuppen einlagern muss, weil sie nicht begraben werden können, und als am Ende von Seite 135 die Tür zum Schuppen geöffnet wird, folgt ein Schwarzbalken, und nach dem Umblättern sind wir bereits in einer anderen Szene. Und Lawrentjewa versteht sich auf die Kunst der Überraschung, denn vierzig Seiten später ist der Winter vorbei, und der Schuppen muss geräumt werden, und wieder wird am Ende einer Seite dessen Tür geöffnet, doch diesmal folgt nach dem Umblättern gleich eine ganze Seite mit dem Leichenhaufen darin. Lawrentjewa erspart uns nichts, doch es ist nie voyeuristisch.

Und ihre Sprache ist ein weiteres Wunder: so pathetisch und gefühlsbetont und dann wieder so lapidar und resigniert, wie es eben die Erzählung der Großmutter erfordert. Dass der Avant Verlag für die Übertragung ins Deutsche Ruth Altenhofer gewinnen konnte, die mit ihren Übersetzungen der Romane von Sasha Filipenko Furore gemacht hat, kann man angesichts der Qualität von Lawrentjewas Texten verstehen.

Das Zentrum der Geschichte gilt dem Leben im belagerten Leningrad, doch die wahre Wunde in Walentinas Leben ist das Schicksal ihres Vaters, dessen Verhaftung auch sie selbst zur Verfemten im Sowjetreich macht, so viel sie auch für ihre Mitmenschen tut. Erst die Tauwetterperiode unter Chruschtschow bringt die Rehabilitierung des Vaters, doch wie er geendet ist, das erfährt Walentina erst in der Perestroika. So ist „Surwilo“ ein großes Panorama der russischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, dargeboten am Beispiel einer Familie, und man lernt daraus, was der Krieg und die Selbstherrlichkeit eines politischen Systems den Menschen antun.

Als sich am Ende des Comics Walentinas Tochter – die den Namen Jelena erhalten hat nach der Schwester, die den Krieg nicht überlebt hat, womit Walentina das Erinnerungsprinzip fortführte, das ihr selbst den eigenen Namen beschert hatte – und deren beide Kinder auf die Spuren der Vergangenheit begeben, laufen in ihrem Autoradio Nachrichten über Russlands damaligem Krieg in der Ost-Ukraine, doch die Meldung bricht ab, als dürfte in diesem russischen Comic nicht über ein Unrecht gesprochen werden, das fortsetzt, was zuvor im Rückblick auf die Zeitgeschichte angeprangert worden war. So ist dieser ganz persönliche Comic auch ein politischer für jene Leser, die ihre offenen Sinne bewahrt haben. Und ein Ärgernis nur für solche, die sich allem verschließen, was ihren Klischees widerspricht.