Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Sie hatte die ganze Welt im Blick

In „Zuflucht nehmen“, dem Comic, den der Schriftsteller Mathias Énard für die Zeichnerin Zeina Abirached geschrieben hat (auf Deutsch erschienen bei Avant), wird von den beiden Protagonisten ein Comic namens „Zuflucht nehmen“ gelesen, in dem von der Reise zweier Frauen im Auto von Europa nach Afghanistan im Jahr 1939 erzählt wird. So metafiktional verkünstelt das ist, diese Reise gab es wirklich. Es dürfte sich um eine der berühmtesten Autofahrten überhaupt handeln, was auch damit zu tun hat, dass eine der beiden Reisenden, die Schweizerin Ella Maillart, darüber geschrieben hat: das Buch „Auf abenteuerlicher Fahrt durch Iran und Afghanistan“. In dem dreht es sich indes hauptsächlich um die andere: Annemarie Schwarzenbach. Als Maillarts Bericht 1948 erschien, war Schwarzenbach schon tot; sie starb 1942 mit gerade einmal 34 Jahren. Heute ist Maillarts Buch unter dem Titel  „Alle Wege sind offen“ beim Lenos Verlag in Basel im Programm, wie auch der größte Teil des Werks von Schwarzenbach. Und diese Bücher zeigen, dass die so früh Verstorbene eine der großen autobiographischen Schriftstellerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Und eine große Feministin. Und eine große Protagonistin der gay culture. Und eine große Fotografin. Und und und.

Unter anderem auch ein großartiger Gegenstand für Comics. Kaum war „Zuflucht nehmen“ 2018 in Frankreich erschienen, kam in Spanien „Annemarie“ heraus, eine Comic-Biographie über Schwarzenbach, geschrieben von der Genderexpertin María Castréjon und gezeichnet von der sowohl politisch als auch sozial engagierten Susanna Martín, eingeleitet überdies von Berta Jiménez Luesma, einer in Spanien bekannten Feministin. Was dieses Trio an Schwarzenbachs Leben gereizt hat, ist leicht zu sagen (siehe oben), aber was haben sie daraus gemacht?

Eine lesenswerte, wenn auch – überraschend bei dieser Protagonistin – höchst konventionelle Geschichte, die nun – nur konsequent – in deutscher (ziemlich guter, obwohl von einem Kollektiv erstellter) Übersetzung bei dem Verlag erschienen ist, der auch sonst die Heimat von Schwarzenbachs Büchern ist: Lenos. Es ist immer wieder schön, wenn literarische Häuser nicht einfach blindwütig erfolgversprechende Comics einkaufen (und nicht selten dann in den Sand setzen), sondern sich dabei um eine konsequente Anbindung an ihr sonstiges Programm bemühen. Auch wenn dadurch bisweilen eher inhaltliche als graphische Pionierarbeit geleistet wird.

Martíns Stil kann man am ehesten mit dem von Olivier Schrauwen in dessen klassisch inspirierten Comics vergleichen: dünne Kontur, blasse Farben, der Stil soll bewusst in die zwanziger und dreißiger Jahre zurückführen, als Schwarzenbach lebte und Europas Nachtleben unsicher machte (eine Leseprobe bietet Lenos nicht an, also hier die des spanischen Originalverlags: https://www.normaeditorial.com/ficha/comic-europeo/annemarie#gallery-1). Als androgyne Schönheit freundete Schwarzenbach sich mit Erika und Klaus Mann an, den beiden ältesten Kindern von Thomas Mann, die selbst Zentralfiguren der homosexuellen Künstlerszene der späten Weimarer Republik und später des Exils waren. Das hochspannende Dreiecksverhältnis zwischen Schwarzenbach und den beiden Manns – alle drei waren Kinder aus wohlhabenden Familien und politisch rebellisch gestimmt – steht völlig zu Recht im Mittelpunkt von „Annemarie“, wobei es auch noch genug andere Lieb- und Bekanntschaften der Titelheldin gab, die hier aber deutlich kürzer kommen.

Über die Entstehungsgeschichte von „Annemarie“ wüsste man gerne mehr. Martín wird mit fortlaufender Geschichte wagemutiger, bricht die Seitenarchitekturen auf, montiert Fotos in die Handlung (Schwarzenbach hat ihre Reisen natürlich auch fotografisch dokumentiert), lässt auf ganzen Doppelseiten Bilder völlig verschwinden, um nur Sprechblasen stehenzulassen. Zugleich aber gibt es bei Castréjons Texten keine ähnlich interessante Entwicklung; sie tragen auf der Grundlage von Schwarzenbachs eigenen Büchern und Zeugnissen ihrer Umgebung das Bild einer Frau zusammen, die geradezu perfekt dem Klischee der wahlweise Wilden oder Goldenen Zwanziger entspricht: libertär, emanzipiert und natürlich todunglücklich. „Babylon Berlin“ als Comic, nur dass hier alles wirklich so war.

Doch war es wirklich so? Schwarzenbachs Bücher zeichnen sich durch eine Komplexität der persönlichen wie sozialen Betrachtungen aus, die in „Annemarie“ kein Echo finden. Besonders auffällig ist das im Fall ihrer großen Reisen: quer durch die Vereinigten Staaten im Jahr 1936 auf den Spuren des New Deal oder auch 1941 durch den belgischen Kongo. Die politischen Komponenten fehlen dabei weitgehend. Was bedeutete es, im Zweiten Weltkrieg in die Kolonie eines von den Deutschen besetzten Landes zu reisen? Gerade die Kongo-Reise bleibt rein atmosphärisch, schon im Zeichen des baldigen Todes (der die begeisterte Autofahrerin – wie banal – im Folgejahr durch die Folgen eines Fahrradunfalls ereilen wird). Was „Annemarie“ schwach macht, ist das, was die beiden Autorinnen (und auch die Vorwortschreiberin) als die Stärke des Comics verstehen: die Betonung der Unkonventionalität von Schwarzenbachs Persönlichkeit. Doch sie richtete ihren Blick auf die Welt, und von diesem größerem Anspruch als einer rein privaten Emanzipation ist in „Annemarie“ zu wenig die Rede. Dass die Lektüre trotzdem lohnt, zeigt einmal mehr, dass die Faszination für diese Autorin nicht aus dem Wissen um ihr kurzes ebenso engagiertes wie tragisches Leben liegt, sondern in der Qualität ihres Schreibens. Und ihrer Fotos. Und ihrer Neugier. Und und und.