Stefan Neuhaus ist gestorben. Er war kein Zeichner, kein Comic-Autor und doch ein Großer in diesem Metier. Denn Stefan Neuhaus war 2013 Mitbegründer und seitdem Vorsitzender des Deutschen Comicvereins, ein guter Geist des Comics und ein ebenso kluger wie sympathischer Mensch. Ich wusste, dass er schwer krank war, aber nachdem ich ihn noch im Mai auf der Comicexpansion im Literarischen Colloquium getroffen hatte, war ich sicher, dass ich ihn noch manches weitere Mal sprechen würde. Ein trauriger Irrtum: Vergangene Woche ist Stefan seiner Krankheit erlegen; er wurde 74 Jahre alt, und wer wissen will, was er alles gemacht hat, der lese es hier im Nachruf seines Freunds Lars von Törne: https://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/stefan-neuhaus-1947-2022-ein-vorkaempfer-fuer-die-anerkennung-des-comics/28506800.html.
Er war Lehrer in Berlin gewesen und hat Comics an die Schule gebracht. Aber er war auch im Ausland ein Repräsentant des deutschen Comics: in Angoulême, in Toronto; wo immer auch Comicfestivals stattfinden, war er irgendwann mit dem Infostand seiner Organisation zu finden, fast immer in Eigeninitiative. Und natürlich wirkte er besonders intensiv in seiner Heimatstadt. Die hochdotierten Berliner Comicstipendien sind zum entscheidenden Teil seiner Lobbyarbeit zu verdanken. Die Comicszene in Berlin ist ohne ihn kaum denkbar. Er war in ihr der internationalste Einheimische. Und ein Türöffner auch für die ausländischen Comicschaffenden, die hierher kamen.
Natürlich ist die ganze Welt ständig zu Gast in Berlin – zumindest, wenn man den Berlinern glauben möchte. Also auch Frankreich. Und tatsächlich sind ja seit den frühen Neunzigern gerade französische Künstler aus dem sündteuren Paris ins billige, aber sexy Berlin gekommen. Und selbst heute ist es dort immer noch viel günstiger als in der französischen Hauptstadt. Aber im vergangenen Jahr hat Berlin gleich zwei seiner kreativsten Französinnen verloren: zunächst Francoise Cactus am 17. Februar und dann am 27. Mai Laetitia Graffart. Beide starben wie Stefan Neuhaus unerwartet. Graffart bei einem Verkehrsunfall mit dem Fahrrad, Cactus wie er an Krebs.
Leser eines Comicblogs der F.A.Z. müssen mit beiden Namen nicht vertraut sein. Francoise Cactus war Sängerin und Songschreiberin des Berliner Pop-Duos Stereo Total, das seit 1995 dreizehn Langspielplatten aufgenommen hat und weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt wurde. Laetitia Graffart dagegen war zwar Comiczeichnerin, aber vorrangig in der Berliner Independent-Szene rund um die Comicbibliothek Renate und das Fachgeschäft Modern Graphics aktiv. Als Herausgeberin des Fanzines „Beton“ war sie ein guter Geist fürs Comicschaffen in Berlin, aber im Gegensatz zu Cactus wurde sie damit nicht überregional bekannt.
Warum wird nun hier recht spät an diese beiden Künstlerinnen erinnert? Weil das auch zwei Comicanthologien tun, die kürzlich im Gedenken an Cactus und Graffart erschienen sind: „Party Anticonformiste“, benannt nach einem Stereo-Total-Titel, und „LaetBeton“, die letzte, nunmehr traurigerweise ohne Beteiligung von Graffart entstandene Ausgabe von „Beton“. Letztere ist mit Unterstützung des Deutschen Comicvereins herausgegeben worden, einer hyperaktiven Gruppierung aus Berlin, die sich die Förderung des Comicschaffens auf die Fahnen geschrieben hat. Erstere erscheint beim Mainzer Ventil Verlag als zweiter Teil einer Reihe von Alben, in denen jeweils einzelne Lieder einer bekannten deutschen Popgruppe von Zeichnern in Geschichten umgesetzt werden. Den Auftakt hatte im Vorjahr ein Band zu Tocotronic gemacht, nun ist Stereo Total dran; ein dritter Band zu Fehlfarben ist schon angekündigt.
War im Tocotonic-Album mit dem Titel „Sie wollen uns erzählen“ eine illustre Schar deutscher Comicschaffender versammelt (Anna Haifisch, Sascha Hommer, Katja Klengel, Moni Port und Philip Waechter, um nur einige zu nennen), hatte Stereo Total offenbar weniger prominente Fans. Bis auf die letztjährige Leibinger-Comicpreis-Gewinnerin Mia Oberländer besteht die Gruppe der zehn Beiträger zu „Party Anticonformiste“ eher aus Szeneangehörigen, und auf der Albenrückseite ist eine der etwas bekannteren Beteiligten, Jule K., auch noch falsch geschrieben (Juke). Etliche Zeichner sind gar keine Comicautoren, sondern Künstler aus unterschiedlichsten Bereichen, die hier aus persönlicher Verbindung zu Stereo Total zum Stift gegriffen haben – bisweilen etwas dilettantischer, als es der Sache gut tut. Der Ventil Verlag bietet leider nicht mehr als das Cover auf seiner Website (https://www.ventil-verlag.de/titel/1908/stereo-totals-party-anticonformiste), aber immerhin kann man dort einiges über die Beteiligten nachlesen.
Die beiden Herausgeber Gunther Buskies und Jonas Engelmann haben das Konzept des ersten Bandes zu Tocotronic, den noch Michael Büsselberg konzipiert hatte, fortgesetzt, und so wird jede Kurzgeschichte nicht nur von einer kurzen Erläuterung des jeweiligen Zeichners begleitet, sondern auch von einer Reminiszenz der Band an den jeweiligen Song (bei „Sie wollen uns erzählen“ verfasste Dirk von Lowtzow selbst diese Texte). Da Francoise Cactus tot ist, übernahm in „Party Anticonformiste“ ihr Partner Brezel Göring diese Aufgabe. Doch die Sängerin ist insofern präsent, als das Fragment eines pornographischen Comics aus ihrer Feder ebenso im Band zu finden ist wie einige faksimilierte Doppelseiten aus einem Skizzenbuch, in dem sie Beobachtungen und Ideen in Wort und Bild festgehalten hat. Das ist eine faszinierende Verbindung, die über die Begeisterung von Zeichnern für die Musik von Stereo Total hinaus deutlich macht, warum eine solche Comicanthologie ihre Berechtigung hat.
Bei „LaetBeton“ stellt sich diese Frage gar nicht erst. Würdiger kann man einer Comicaktivistin wie Laetitia Graffart gar nicht gedenken; auch nicht bewegender, denn sograr die Mutter der tödlich Verunglückten, Cécile Heritier, hat eine Erinnerung an ihre Tochter beigesteuert. Das ganze Heft kann man auch unter https://deutscher-comicverein.de/laetbeton-fondsbeton/ lesen. Und etliche Bilder von Graffart im Kontext ihrer Rolle als Fanzine-Macherin von „Beton/Béton“ finden sich auf https://betoncomiczine.tumblr.com/. „LaetBeton“ ist konsequent zweisprachig deutsch-französisch gehalten, und die beteiligten Autoren setzen die ungebärdige Punk-Ästhetik von Graffarts Comics fort – vom blutroten Wrap-Around-Cover, das Stephane Hirlemann beigesteuert hat, über die niedliche Liebeserklärung von Klaus Cornfield und eine Begegnungsschilderung von Ulli Lust bis zu einer wilden Jenseits-Vision von Tine Fetz. Die mehr als dreißig Beiträge sind kurz, und man spürt ihnen sowohl die Freundschaft zu Graffart als auch die Betroffenheit über deren frühen Tod an. Damit ist glaubhaft gemacht, was oftmals leicht behauptet wird: Dass eine Verstorbene nie vergessen werde. Dafür wird dieses Heft sorgen. Und etwas Vergleichbares als Hommage wünsche ich mir nun auch für Stefan Neuhaus. Ich bin sicher, dass es passieren wird.