Seit fast einem Jahr lag dieses Album auf meinem Schreibtisch, gekauft aus spontaner Begeisterung in Frankreich, wo es im vergangenen Spätsommer stapelweise in den Buchhandlungen herumlag: wunderschön in Halbleinen gebunden, schweres Papier, elegante Zeichnungen und eine Geschichte, die von einer Widerstandszelle im besetzten Paris des Zweiten Weltkriegs. „Les Vivants“ heißt das Album, die Lebenden. Von den der Autoren, Raphael Meltz und Louise Moaty als Szenaristen und Simon Roussin als Zeichner hatte ich noch nie gehört.
Roussin zeichnet allerdings in einem Stil, der mir unendlich vertraut ist: die Figuren wie von Stanislas (stilisierte Züge, runde Formen), die Dekors wie von Avril (also federleichte Linien) und die Farben wie von Dupuy & Berberian (dunkel gesättigt und flächig). Mit einem Wort: hochelegant. Passend dazu gestaltet ist die Homepage mit einer Leseprobe und weiteren Informationen: https://www.editions2024.com/livres/des-vivants. Ein Augenschmaus. Und genau der Stil, den in Deutschland niemand für einen politischen Zeitgschichtscomic wähnen würde. Das macht auch genau den Unterschied aus zwischen der französischen und der deutschen Comic-Kultur: Die französischen Leser wollen nicht nur belehrt, sondern auch erfreut werden. Und sie wissen, dass man sich erfreut besser belehren lässt.
Trotzdem dachte ich, dass ein solch prächtiger Band mit einer derart interessanten Geschichte den Weg nach Deutschland finden würde, und dann hätte ich die Übersetzung feiern können. Nach fast einem Jahr habe ich diese Hoffnung verloren und gebe das Warten auf. Mag sein, dass die ambitionierten, aber kleinen Éditions 2024 als Verlag nicht genug Kontakte ins Ausland haben, aber ich fürchte, just das, was mir an dem Band gefällt, schreckt deutsche Verleger ab. Also muss jemand, der wissen will, wie man ebenso mitreißend wie bewegend über die Résistance erzählen kann, nun doch zum französischen Original greifen. Bereuen wird man’s nicht, und wer einigermaßen Französisch versteht, wird auch kein Problem mit dem Text haben. Bis auf die Anmerkungen. Aber dazu später.
Es gibt einen ästhetischen Maßstab für Résistance-Geschichten: Jean-Pierre Melvilles Spielfilm „L’Armée des ombres“ (deutsch „Armee im Schatten“) von 1969. Ich sage nur Lino Ventura, Simone Signoret, Paul Meurisse – um nur die drei Besten aus dem unglaublichen Schauspieler-Ensemble zu nennen. Und Melville als Regisseur ist ohnehin der Größte. Für seine Film bediente er sich realer Vorbilder, verfremdete aber die Namen. „les Vivants“ folgt ihm beim letzteren Schritt nicht. Der Comic erzählt eine genau recherchierte Geschichte und nennt alle Beteiligten bei den Namen.
Im Jahr 1938 eröffnete in Paris das Musée de l’homme, ein neues Museum, dessen Programm der damaligen linken Volksfront-Regierung entsprach: Der Mensch wurde darin als soziales Wesen gewürdigt, das Museum sollte als politisches Fanal gegen die totalitäre Indienstnahme des Individuums wirken, wie sie in den deutschen, italienischen oder russischen Diktaturen exekutiert wurde. Entsprechend engagiert waren die Mitarbeiter um den Direktor Paul Rivet. Und so war es keine Überraschung, dass sich nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich dort im Musée de l’homme eine Widerstandszelle gegen die Besatzer bildete – eine, auf deren Flugblättern zum ersten Mal das Wort „Résistance“ als Schlagwort der Verweigerung zu finden war.
Davon erzählen Meltz und Moaty, das zeichnet Roussin. Sie stellen die rund zwanzig Mitglieder der Zelle vor, von denen einige als Außenstehende dazustießen. Das Herz des Widerstands aus dem Musée de l‘homme war der 1908 geborene Russe Boris Vildé, der nach der Revolution mit seiner Familie nach Frankreich geflohen war, dort Ethnologie studiert hatte und naturalisiert worden war. Roussin zeichnet ihn mit markantem Haarschopf; wenn man sich die historischen Fotos anschaut, kann man über die Ähnlichkeit der stark stilisierten Figur nur staunen, und das ist generell die Stärke des Zeichenstils von „les Vivants“. Der Band macht auch die Gesichter der Widerstandskämpfer wieder lebendig.
Sieben von ihnen wurde im Februar 1942 hingerichtet. Die Zelle war durch Verrat eines Mitglieds aufgeflogen. Von dem schleichenden Prozess der Einkreisung berichtet „Les Vivants“, man folgt der Handlung wie einem Krimi. Dabei ist hilfreich, dass die Geschichte in Deutschland nicht so bekannt ist wie in Frankreich; ich zumindest habe bis zum Schluss gehofft, dass es doch noch anders kommt. Aber warum sollte es das? Schon Melville hatte seinen Film böse enden lassen und trotzdem das beeindruckendste Plädoyer für Widerstand geschaffen. Darin folgt ihm „Les Vivants“. Aber er erzählt im Gegensatz zu „L’Armée aux ombres“ bis zum bitteren Ende. Beim Finale löst Roussin die Seitenarchitektur zugunsten isolierter Gefängnisselbstgespräche der Verhafteten und ihrer Äußerungen im Prozess auf, ehe ein Zeitsprung einen der Überlebenden nach Kriegsende an den Ort der Hinrichtung führt. Das Pathos dieser Szenen ist beeindruckend. Ich kenne keinen Comic, der so auf die Tränendrüse drückt und dabei kein schales Gefühl hinterlässt.
An die eigentliche Handlung von 230 Comicseiten schließt sich dann noch ein kleingedruckter akribischer Quellennachweis an, der für jede Sprechblase und jedes Bilddetail den Ursprung angibt. Meltz und Moaty wollen keinen Zweifel daran lassen, dass sich alles so abgespielt hat, wie sie es schildern, nur dass die Selbstzeugnisse der Widerstandskämpfer in der Handlung dienende fiktionalisierte Kontexte versetzt sind. Diese Nachweisflut ist ohne Beispiel und setzt Maßstäbe für historische Rekonstruktionen im Comic. Ihre Textmenge dürfte die eigentlichen Sprechblasendialoge und textkästen ums Vier- bis Fünffache übertreffen, und wenn noch Fragen nach der Lektüre des Comics offengeblieben sein sollten, werden sie hier beantwortet. Womöglich liegt es auch an der Schwierigkeit, diesen Teil des Buchs zu übersetzen, dass sich kein deutscher Verlag an „Les Vivants“ gewagt hat. Jeder, der sich für Zeitgeschichte interessiert, und jede, die sehen will, was Comics auf diesem Feld zu leisten verstehen, sollte das Buch lesen.