Am Ende des Mammutprojekts geht jetzt alles ganz schnell. Nicht zeitlich; der vierte Band von „Spirou oder: die Hoffnung“ (erschienen bei Carlsen) deckt immerhin noch einmal ein ganzes Handlungsjahr ab, vom Sommer 1944 bis kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber vom Umfang her, denn der Abschlussband von Émile Bravos hochgelobter und vierverkaufter Comic-Tetralogie kommt mit der klassischen Albumlänge von 48 Seiten aus – und das nach zweimal 96 (Band 1 und 2) und einmal gar 120 Seiten (Band 3). Zusammen also 360 Seiten und damit die längste „Spirou“-Geschichte aller Zeiten (und diese Serie gibt es seit 1938!). Aber eben ein kurzes Finale.
Es hinterlässt nach dem epischen Atem der drei Vorgänger-Teile ein leicht schales Gefühl, als wäre dem 1964 in Paris geborenen Sohn spanischer Emigranten aus der Franco-Diktatur zum Schluss seiner hochpolitisierten und moralisch aufgeladenen Erzählung die Luft ausgegangen. Natürlich stimmt das nicht; sein deutscher Übersetzer, Uli Pröfrock, hatte schon vor mehreren Jahren erzählt, dass Bravo genau diese Gesamtlänge anstrebte, und die Gründe für die Ungleichverteilung auf die vier Alben sind ganz einfach dramaturgische: Scharniere zwischen den vier Teilen waren jeweils Eisenbahnszenen, und die kann man nicht einfach hinsetzen, wo man will. Das Bemerkenswerte an „Spirou oder: die Hoffnung“ ist ja gerade die epische Erzählweise. Schon die extrem geizige Leseprobe zeigt das: https://www.carlsen.de/softcover/spirou-und-fantasio-spezial-36-spirou-oder-die-hoffnung-4/978-3-551-78047-8.
Es geht, oft genug habe ich schon darüber geschrieben, um Belgien unter deutschen Besatzung: wie sich die Einwohner verhalten haben. Der Titelheld Spirou kommt dabei eher als reiner Tor à la Parzival daher; unschuldig-hilfreich stößt er zum Widerstand gegen die Nazis. Sein bester Freund Fantasio ist da schon länger und in vollem Bewusstsein der Bedeutung und Gefahren dieser Entscheidung, aber das merkte man als Leser erst von Band 2 an – vorher wähnte man, in Fantasio einen Kollaborateur der übelsten Sorte zu sehen. Das war ein erzählerisches Bravourstück von Bravo (man entschuldige das Wortspiel), zumal Fantasio in der Tradition der großen Spirou-Meister Jijé und André Franquin stets eine ambivalente Figur war. Und nun wird er plötzlich zum wahren Helden.
Bravo war vor mittlerweile vierzehn Jahren derjenige gewesen, der Spirou erstmals konsequent werkimmanent-chronologisch verstand und der wie gesagt 1938 erfundenen Titelfigur im Album „Porträt eines Helden als junger Tor“ eine Kriegsbiographie bescherte. Die war immens erfolgreich, aber bis er sich noch einmal als Gastautor für „Spirou“ bitten ließ, verging fast ein Jahrzehnt. Seitdem hatten vor allem Olivier Schwartz und Yann gemeinsam die spektakuläre Anbindung des Geschehens an historische Ereignisse aufgenommen, und es mag sein, dass Bravo seine eigene Position in diesem Kontext verteidigen wollte – und die von Spirou, er bei den Kollegen wieder ganz zum Actionhelden wurde, statt weiter zu zögern.
Dieses Zögern ist bizarrerweise der Motor des Geschehens in „Spirou oder: die Hoffnung“. Oftmals möchte man den Titelhelden wachrütteln, aber dann erweisen sich seine Skrupel auch wieder als segensreich, so zu Beginn des Abschlussbandes, als Fantasio eine Eisenbahnbrücke sprengen will, über die aber gerade ein Deportationszug mit belgischen Juden fährt. Wobei man aus heutiger Sicht genau weiß, dass damit wohl niemandem das Leben gerettet wurde, weil die Zuginsassen in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Und mit diesem Wissen spielt Bravo höchst geschickt. Wie auch mit unserem Mitgefühl selbst für deutsche Soldaten, deren Zug dann tatsächlich wenig später in die Luft gesprengt wird – allerdings versehentlich. Moralische Fragen um Leben und Tod prägen hier alles.
Warum ist das Ergebnis von Bravos Opus magnum dann doch unbefriedigend? Weil zu viele Fäden ins Nichts verlaufen. Wichtige Nebenfiguren etwa waren der – real existiert habende – Maler Felix Nussbaum und dessen Frau Felka, die den Nazi-Häschern im Brüsseler Exil leider nicht entkommen sind und ermordet wurden. Nach drei Bänden, die ständige Begegnungen von ihnen und Spirou zum Gegenstand hatten, wird nun lapidar vermerkt, wie schrecklich sie geendet sind. Und Bravo beschließt seinen Band mit einem doppelseitig reproduzierten Gemälde Nussbaums, das zuvor schon Teil der Handlung war, ohne dass man es hatte sehen können. Dramaturgisch klug, aber im Kontext dessen, wofür das Bild steht, unerquicklich effekthascherisch.
Und dieses Verschwinden ins bloße Erzählt-Werden ist noch gar nichts gegen Spirous jüdische Freundin Kassandra, die er im vorherigen Verlauf verlor, als auch sie nach Polen deportiert wurde. Nun kommt im Nachkriegs-Epilog ein Brief, in dem sie Spirou den Laufpass gibt. Sie hat die Lager überlebt und wird nach Palästina gehen. Man muss das wohl als bewusste Offenhaltung ihres Schicksals sehen, die es Bravo ermöglichen soll, noch einmal zu ihr zurückzukehren. Ein Album „Spirou in Israel“ oder so ähnlich kündigt sich an. Aber taugt wirklich die ganze Weltgeschichte für Spirou? Womöglich, wenn man sie so burlesk erzählt, wie der deutsche Zeichner Flix mit seinem Album „Spirou in Berlin“ über das Ereignis des Mauerfalls. Aber so unernst kann Émile Bravo nicht erzählen.
Dass seine Tetralogie einer der großen Würfe der jüngeren französischen Comicgeschichte ist – kein Zweifel. Dass es ihm thematisch eine Herzensangelegenheit war angesichts der eigenen Familiengeschichte mit der elterlichen Flucht vor einem faschistischen Diktator – bewegend. Aber das nun auf Kosten des Schreckens der Schoa eine Fortsetzung vorbereitet worden sein könnte – beunruhigend. Diesem Riesenprojekt hätte man ein Ende gewünscht, dass die Last der wirklichen Geschichte in der erfundenen spürbar macht. Dass die Nussbaums sterben wurden, war klar. Dass Kassandra überleben würde, durfte man zwar hoffen. Aber die Schoa war hoffnungslos. Dass er Titel Spirou oder: die Hoffnung“ anders als traurig gemeint gewesen sein könnte, hätte ich nie gedacht. Und diese Überraschung ist keine schöne.