Über die Funktionsweisen von Diktaturen sind wir in diesem Jahr bereits mehrfach leidvoll aufgeklärt worden: durch Putins Russland mit seinem Krieg gegen die Ukraine, durch Xis China mit seinem vor ein paar Tagen beendeten Parteitag der Kommunistischen Partei, die jede Oppositionstendenz beseitigt hat, durch Chameneis Iran mit dessen Terror gegen Demonstranten oder durch Kims Nordkorea mit seinen Raketendemonstrationen über der Japanischen See, die von der katastrophalen nationalen Wirtschaftslage ablenken sollen. Braucht es neben der eigenen Politik ihrer Führer noch weitere Nachweise für den hemmungslosen Totalitarismus dieser Länder?
Wenn ja, dann empfiehlt sich im Falle Nordkoreas die Lektüre eines Comics, er gerade bei der Edition Moderne erschienen ist und lange erwartet wurde. Zumindest seit vergangenem Herbst, als er den höchstdotierten deutschen Comicpreis zugesprochen bekommen hat: den der Berthold-Leibinger-Stiftung, der jedes Jahr für eine noch in Arbeit befindliche Geschichte vergeben wird. Die Zeichnerin dieses Comics ist die in Berlin lebende Sheree Domingo, die bereits mit ihrem Debüt „Ferngespräch“ in die engere Auswahl für den Leibinger-Preis gekommen war, und als Szenarist tritt Patrick Spät auf, auch er schon leibingernominiert für „Der König der Vagabunden“. Erfreuliche Gleichung: Zweimal Finalisten zusammen macht einmal Triumph.
Wobei ich als Mitglied der Jury des Leibinger-Preises weiß, dass alles streng anonymisiert wird, bevor wir die eingereichten Comicprojekte prüfen, und Domingos Stil war mittlerweile derart anders als in ihrem ersten Buch, dass ich niemals geahnt hätte, welche Macher sich hinter der Gewinnergeschichte verbargen. Nun aber endlich deren Name: „Mme Choi & die Monster“. Und so sieht der Comic aus: https://www.editionmoderne.ch/buch/madame-choi-und-die-monster/.
Wie gesagt: Es geht um Nordkorea. Aber nicht nur. Es geht auch um Film- und Mythengeschichte, um Liebe, Psychologie und Wahnsinn. Die Handlung ist derart unglaublich, dass es wohl zwingend war den Zusatz „nach einer wahren Begebenheit“ aufs Cover zu setzen. Anfang 1978 ließ Kim Jong-il, damals bereits designierter Nachfolger seines Diktatorenvaters Kim Il-sung, die südkoreanische Starschaupielerin Choi Eun-hee und deren Ex-Ehemann, den Regisseur Shin Sank-ok, beide damals einundfünfzig Jahre alt und nicht mehr ganz auf der Höhe ihres früheren Ruhms, getrennt voneinander entführen und in sein Land verschleppen, wo sie erst einmal jahrelang indoktriniert, umerzogen, im Falle von Shin auch gefoltert wurden, ehe sie 1983 wieder zusammengeführt, verheiratet und zu gemeinsamen Dreharbeiten im Dienste Kims gezwungen werden. Denn Kim war Filmliebhaber. Drei Jahre später gelang beiden bei einem Filmfestival in Wien die Flucht, sie fanden Exil in den USA, und der einzige bedauerliche Aspekt dieser Rettung ist, dass Shin schon 2006 starb, während Choi ihren Peiniger Kim, der 2011 das Zeitliche segnete, noch um sieben Jahre überlebte.
Irre Geschichte – was bräuchte es mehr? Nun, Spät und Domingo führen es vor. Sie erzählen diese Menschenräuberpistole als große Allegorie auf Diktaturen schlechthin, denn sie bauen in freier Bearbeitung den Stoff eines von Shin mit Choi gedrehten Spielfilms mit ein: „Pulgasari“ von 1985, bizarrerweise das Remake eines südkoreanischen Films des Jahres 1962 von einem anderen Regisseur, dessen Kopie aber heute verschollen ist – es geht das Gerücht, dass Kim Jong-il das Werk so sehr geliebt hat, dass er es stehlen ließ. Und später eben durch seine Menschenbeute nachdrehen ließ. Beide Filme erzählen von einem eisenfressenden Monster, das Angst und Schrecken unter der koreanischen Bevölkerung verbreitet. Vorbild war die japanische Godzilla-Serie, und der Filmfan Kim ließ es sich nicht nehmen, den Japaner, der im Godzilla-Kostüm gesteckt hatte, Kenpachiro Satsuma, für sein Remake als Monsterdarsteller zu engagieren (notabene: nicht zu entführen!).
Deshalb also „die Monster“ im Titel des Comics, aber mit denen sind natürlich mehr noch Kim und seine Handlanger gemeint. Und in gewisser Weise auch die Männer, unter denen Choi privat gelitten hat: ihr erster Ehemann und dann auch Shin, der ihr untreu geworden war. Die Schauspielerin ist als Titelfigur auch Mittelpunkt des Geschehens, und das kleine Mädchen, das in „Pulgasari“ mit Hilfe des Monsters gegen den bösen König kämpft, bis es am Ende auch die nimmersatte Kreatur besiegen muss, ist Chois Alter Ego in jedem Sinne. Wie Spät und Domingo die beiden Erzählstränge montieren, ist höchst subtil, und wie es ihnen gelingt, koreanische Elemente in ihre Bildersprache einzubringen, ohne Exotismus anheimzufallen, ist fast schon mustergültig (wenn wir mal von ein paar ganzseitigen allzu blüten- und vogelseligen Panels absehen, die aber als retardierende Momente eine wichtige erzählende Funktion besitzen).
170 Seiten hat dieser Comic, und wäre er doppelt so dick geworden, hätte ich mich nicht beklagt, denn man kann ihn gar nicht aus der Hand legen. Zumal er sich leicht liest: textreiche Passagen, vor allem aus der nordkoreanischen Umerziehungsgefangenschaft, wechseln mit bildmächtigen Sequenzen aus dem Pulgasari-Stoff ab, die bewusst filmische Schnitttechniken nachahmen. Und dann ist der ganze Comic noch aufgemacht wie ein Pulp-Heft: reißerisch die Titelbildgestaltung, broschiert das Buch, aber dann mit dem grandiosen Kniff eines Ausfaltumschlags, der plötzlich ein historisches Foto zeigt, auf dem Choi und Shin den grinsenden Kim Jong-il flankieren. Und dieses Dokument belegt aufs Schönste, wie geschickt sich Domingos Zeichnungen der Realität anschmiegen, ohne nur im Ansatz realistisch zu wirken. Aber alles ist wahrhaftig in dieser Wahnsinnswelt – leider für die Welt, erfreulicherweise für den Comic.