Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Graphischer Gang auf Messers Schneide

Nach achtjähriger Pause geht das ambitionierteste deutsche Sachcomic-Projekt weiter: Jens Harders gezeichnete Evolutionsgeschichte. Wobei es zunächst eine französisches Sachcomic-Projekt war, denn der Band „Alpha … directions“ erschien 2009 beim Imprint l’An 2 des Verlags Actes sud, das der belgische Comictheoretiker Thierry Groensteen als eines der etabliertesten Autorenprogramme für bandes dessinées etabliert hatte – und das will in Frankreich ja einiges heißen. Vor allem richtete Groensteen seinen Blick über die Grenzen – und das wollte in Frankreich damals noch einiges heißen. In Deutschland entdeckte er zwei Personen, die seitdem Furore gemacht haben: Barbara Yelin und eben Jens Harder.

Der Berliner Zeichner, geboren 170 in Weißwasser, überraschte mit seiner dritten französischen Albenproduktion alle, inklusive der Jury des Comicfestivals von Angoulême, die ihm 2010 ihren Prix de l’audace (Wagemutspreis) zuerkannten. In der Tat, das war mutig: Mehr als dreihundert Seiten stark und des exzellenten verwendeten Kunstdruckpapiers wegen kiloschwer, kam „Alpha“ daher – als Bilderflut über die vormenschliche Zeit unseres Planeten, gespeist aus jenen Bildern, die die Menschen sich dann später von ihrer Vorzeit gemacht hatten. Harders schöpferische Leistung besteht im Arrangement, aber auch darin, dass er die Motive selbst noch einmal abzeichnet, so dass einerseits eine wiedererkennbare Handschrift diese Evolutionsgeschichte geprägt (der bekennende Atheist Harder setzt seine schöpferische Kraft gegen das Verständnis einer göttlichen, wobei er genug religiöse Überlieferungen miterzählt, denn wir käme man um die herum?), andererseits aber trotzdem die ästhetischen Eigentümlichkeiten der Vorlagen noch sichtbar bleiben. Ein graphischer Gang auf Messers Schneide. Leider ist wieder mal bei Carlsen keine Leseprobe zu finden, also hier der Verweis auf Harders eigene Website, die seinen Stil deutlich macht: http://www.hardercomics.de/.

Bis der deutsche Carlsen-Verlag „Alpha“ ins Programm nahm, verging ein Jahr, bei „Beta“, der Fortsetzung, die das Geschehen dann in der von Menschen geprägte Epoche führte (deshalb der Untertitel „Civilizations“), war das Haus dann gleich mit dabei. Aber „Beta“ erwies sich angesichts der Überlieferungsmasse als so großes Thema, dass Harder es aufteilte: Teil I bis zur Antike, Teil II bis heut. Nur, dass nach Teil I eben jene erwähnten acht Jahren Pause kamen, geprägt durch andere Projekte und auch die Pandemie, die zwar einsame Arbeit begünstigte, aber Harder bezeichnet sich in dieser Zeit rückblickend als „gespenstisch ausgebremst“. Trotzdem hat er seinen eigenen Zeitplan von vier Jahren nur um drei Monate überzogen, und rechtzeitig zu Weihnachten ist das Buch nun im Handel: wieder kiloschwer und 370 Seiten stark – ein perfektes Geschenk für alle Lern- und Schaubegierigen. Und den satten Preis von fünfzig Euro wert.

Worte macht Harder wenige (obwohl jedem der Epochenkapitel von Altertum bis Neuzeit eine Chronologie mit den wichtigsten Ereignissen folgt, und im Anhang noch ausgiebig erklärt wird, was das Projekt bedeutet und an wen es sich wie richtet), aber es kommt eh auf die Bilder an. Darin wirkt Harder wahre Wunder, obwohl oder gerade weil einem alles bekannt vorkommt. Nehmen wir nur das letzte Bild des ersten Kapitels, Altertum: eine Kirche, aber keine antike, sondern eine ganz moderne, die den Abschluss von vier Seiten darstellt, auf denen die Ausbreitung der christlichen Religion dargestellt wird und sich schließlich ein Kirchenbau an den nächsten reiht. Darunter der Petersdom, die Hagia Sophia, die Sagrada Familia und der Tempel der Mormonen in Salt Lake City, um nur die Berühmtesten zu nennen. Aber das letzte Bild, ganz klein unten in der Ecke, gehört der deutschen Autobahnkirche Siegerland, fertiggestellt 2013, konzipiert vom Architekturbüro schneider+schumacher.

Natürlich ist dieser Bau gefeiert worden, aber darauf kommen muss man schon. Zumal er in Harders Darstellung sichtbar macht, was die Inspiration wiederum für schneider+schumacher war: die Kirchenbilder von Lyonel Feininger, seines Zeichens ja auch eine Größe des Comics. Die über die Konturen des eigentlichen Baus hinausgehenden Mauerzüge nehmen genau die kristalline Zersetzung Feiningers der Kirche von Gelmeroda auf (die – verrückt genug – heute ja auch den Status einer Autobahnkirche hat). Das ist unglaublich witzig und sehr klug. Erstaunlich nur, dass im akribischen Bildquellenverzeichnis am Schluss weder schneider+schumacher noch Feininger Erwähnung finden.

Und nun geht es weiter, denn nach der Gegenwart kommt ja noch etwas: die Zukunft. Der will sich Harder unter dem Titel „Gamma“ widmen, mit all den utopischen Bildvorstellungen dessen, was uns erwartet. In den acht Jahren seit „Beta I“ hat sich so viel gegenüber der ursprünglichen Konzeption verändert, dass Teil II ein anderes Buch wurde als gedacht. Das dürfte bei „Gamma“ nicht anders werden. Und je länger die Fertigstellung brauchen wird, umso gewagter. Ich wünsche Jens Harder einen kurzen Atem, damit er nicht zu lange braucht.