Ari Folman ist ein berühmter Mann. Zur Erinnerung: „Waltz with Bashir“ aus dem Jahr 2008. Das war sein Film, von ihm geschrieben (auf der Grundlage eigener Erfahrungen als israelischer Soldat im Libanon der frühen achtziger Jahre), selbst gedreht, eine Kinosensation auf der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation – und das als Zeichentrickfilm. Einen Comic gab es dazu auch noch, ein Jahr danach publiziert und gezeichnet von David Polonsky in enger Anlehnung an die Ästhetik des Films.
Als Comic war „Waltz with Bashir“ indes wenig reizvoll, eben weil es darin keine ästhetische Eigenständigkeit gab. Aber never change a winning team, und so musste Polonsky sich eben anpassen. Da auch der Comic ein relativ großes Publikum fand, galt dann acht Jahre später die Maxime „Never change a winning team“ auch für ihn: Als Folman seinen nächsten Comic geschrieben hatte, wurde wieder Polonsky engagiert. Es war ein denkbar prominenter Stoff: „Das Tagebuch der Anne Frank“.
Ein berühmteres Buch als diese Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens in ihre Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht während der deutschen Besatzungszeit der Niederlande dürfte es kaum geben. Ein zugleich traurigeres und trostreicheres auch nicht, denn Anne Frank wurde bekanntlich noch kurz vor Kriegsende in Bergen-Belsen ermordet, und doch sind ihre Selbstbefragungen und Beobachtungen von einer sowohl poetischen als auch lebenspraktischen Reife, dass man nur staunen kann. Das Buch ist verfilmt worden (erstmals schon 1947, womit der Erfolgszug eigentlich erst begann), war Gegenstand unzähliger Untersuchungen und ist bis heute Schullektüre rund um die Welt.
Ein Comic hatte natürlich auch nicht gefehlt, als Folman und Polonsky 2017 ihre Adaption veröffentlichten, aber die Prominenz von Folman machte seine Version zu etwas weit Beachtetem. Zudem es ihm selbst ein Bedürfnis war, Anne Franks Werk an so viele Leser wie möglich zu bringen. Und der leicht kantige Stil von Polonskys Bildern führte ein neues Element in die Anne-Frank-Rezeption ein: Hier war eine junge Frau denkend und schreibend zugange. Der Comic wirkte frei, obwohl er ja eine Adaption war, aber diesmal gab es ja auch keinen Trickfilm als Vorbild.
Der kommt vielmehr jetzt als Nachspiel. Ende Februar wird „Wo ist Anne Frank?“ von Ari Folman in die deutschen Kinos kommen, auf Festivals lief er schon vor einigen Monaten. Du wer schon wissen will, was ihn im Film erwartet, kann den Comic „Wo ist Anne Frank?“ lesen, der bei S. Fischer, dem deutschen Anne-Frank-Verlag, gerade erschienen ist: Auf 150 Seiten erzählt Folman auf eine erstaunliche Weise, nämlich dadurch, dass er nicht Anne Frank selbst zur Hauptfigur macht, sondern deren imaginäre Freundin Kitty.
Die ist eine Figur des Tagebuchs, und Folman hat in ihr den Schlüssel für eine Filmhandlung gefunden, die sich von früheren Anne-Frank-Verfilmungen unterscheidet. Sein Film und auch sein Comic spielen in unserer Gegenwart. Die Projektionsfigur Kitty, in vielem ein Gegensatz zu Anne, erwacht im Anne-Frank-Museum in der Prinsengracht und weiß nicht, was seit 1944, als das versteck von den Nazis ausgehoben wurde, passiert ist. Für die Besucher ist das Mädchen unsichtbar, aber außerhalb des Gebäudes wird sie zur realen Person, wenn sie das authentische Tagebuch der Ane Frank mit sich führt. Deshalb gilt sie aber auch bald als Diebin, und das ganze Land ist hinter Kitty her.
Folman hat eine Parabel geschrieben: auf die Berühmtheit von Anne Frank, die sich aber nicht darin artikuliert, dass heute ihre Überzeugungen hochgehalten werden, sondern nur in der Benennung von Schulen, Brücken, Museen. Die humanistischen Werte, für die Anne Frank steht, werden dagegen mit Füßen getreten in einer Gesellschaft, die Flüchtlingen die Tür weist. Alsbald sehen wir Kitty auf einen Kreuzzug für Anne Franks Ideale und gegen die Gleichgültigkeit. Dabei steht ihr mit dem Aktivisten Peter ein attraktiver junger Mann zur Seite, der natürlich nicht zufällig denselben Namen trägt wie jener jüdische Schicksalsgenosse, in den sich Anne Frank im Versteck verliebt hatte.
Polonsky ist übrigen nicht mehr dabei, aber die israelische Zeichnerin Lena Guberman hat ihren Stil an seinem geschult: „Wo ist Anne Frank?“ sieht aus wie eine Fortsetzung der „Tagebuch“-Adaption (hier zu sehen: https://www.fischerverlage.de/buch/ari-folman-lena-guberman-wo-ist-anne-frank-eine-graphic-novel-9783100000798, dazu der Vergleich mit dem früheren Band: https://www.fischerverlage.de/buch/anne-frank-david-polonsky-das-tagebuch-der-anne-frank-9783103972535). Guberman war aber auch mitverantwortlich für das Produktionsdesign der verfilmung des Stoffs durch Folman, also handelt es sich bei dem Comic um mehr als eine Buch zum kommenden Film: Er entstand parallel zu den Animationsarbeiten. Leider hat das nicht bewirkt, dass er sich Freiheiten gegenüber diesen herausnahm – also wieder das alte „Waltz with Bashir“-Problem. Manche Bildsequenzen mögen auf der Leinwand toll aussehen, auf einer Comicbuchseite wirken sie einfach nur forciert und bisweilen statuarisch. Just die Lebendigkeit, die Kitty erlangt, fehlt diesem Comic. Folman hat nichts aus früheren Fehlern gelernt, aber er ist ja auch vor allem Filmerzähler. Das reicht aber nicht für einen guten Comic.