Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

You’re gonna loose that girl

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She’s a real nowhere girl, sitting in her nowhere world, making all her nowhere plans for nobody – die elfjährige Magali weiß nicht, wo es hingehen soll. Jedenfalls nicht in die Schule. Jeden Morgen, wenn der Vater sie hinbringt, muss sie sich vor dem Schulhof übergeben und kehrt mit ihm nach Hause zurück. Irgendwann kommt die Diagnose, die Magalis Eltern, zwei renommierte Kinderpsychologen, nicht selbst haben treffen können (oder wollen): Schulphobie.

Man möchte meinen, dass wäre ein Kinderwunschtraum, um dauerhaften Unterrichtsverzicht zu erzielen, aber diese Phobie gibt es wirklich – wie etwa auch Aktenphobie, die das Arbeiten in Behörden verhindert. Klingt auch nach Wunschtraum, ist für die Erkrankten aber ein ernstes Problem, wenn sie schon in den jeweiligen Institutionen sitzen. Magali ist zwar nicht unglücklich über den nun einsetzenden Heimunterreicht über eine französische Fernschule, aber sie hat mit der einsetzenden Pubertät auch sonst einiges zu tun. Das einzige, was ihr an Neuem begegnet und sie begeistert, sind die Beatles.

Nun könnte man meinen, „Nowhere Girl“, der autobiographische Comic der französischen Zeichnerin Magali le Huche, spielte in den sechziger Jahren. Weit gefehlt: Wir sind zu Beginn der Neunziger. Aber warum sollte man als Teenager nicht derselben Faszination verfallen wie die Generationsgenossen drei Jahrzehnte zuvor? Wobei ein besonders komisches Potential des Comics im Unverständnis der Klassenkameradinnen von Magali liegt, die in den Beatles die Musik ihrer Eltern sehen – wenn sie sie überhaupt noch kennen. Magali erscheint wie aus der Zeit gefallen, aber tatsächlich eröffnen ihr die Lieder der Beatles auch einen anderen Raum: einen Freiraum, in dem sie träumen kann und die Welt erkundet.

Magali la Huche wurde 1979 in Paris geboren und ist eigentlich Bilderbuchillustratorin – bei S. Fischer erschienen bereits mehrere Kinderbücher ihrer „Paco“-Serie in deutscher Übersetzung. Doch erst mit dem jetzt von Reprodukt verlegten Comicdebüt sieht man, was für eine große Erzählerin da zugange ist. Erstmal sieht man es ganz buchstäblich: auf Nowhere Girl – Reprodukt, der Leseprobe des Verlags. Wer bis zur letzten der dort angebotenen Seiten durchblättert, der wird sehen, wie einfallsreich La Huche nicht nur die Seitenarchitekturen, sondern auch den Farbeinsatz gestaltet. Sobald die Beatles ins Spiel kommen, geht es bunt zu. Aber auch der Anlauf bis dahin ist toll. Auch wenn man die Anleihen bei Riad Sattoufs „Araber von morgen“ oder Catherine Meurisses „Leichtigkeit“ deutlich sieht. Aber wer sich an den Besten orientiert, macht zumindest das schon einmal richtig.

Die erste Hälfte des etwas mehr als hundertseitigen Comics gehört denn auch selbst zum Besten, was ich in den letzten Monaten gelesen habe. Danach wird es etwas absehbar, sind auch kaum mehr die graphischen Exzesse zu finden, die synästhetischem Musikempfinden entsprungen schienen. Doch ich jammere auf hohem Niveau, denn langweilig wird es nie. Und der nächste Comic von Magali la Huche wartet schon: „Grüna“ soll im Mai bei Reprodukt erscheinen und sieht sensationell gut aus. Als Auftakt einer Serie namens „Hexenkram“, die Jugendromane von Marie Desplechin zur Vorlage hat, die jeweils Farben im Titel tragen. Da werden wir mall sehen, was La Huche bei Adaptionen drauf hat.

Und wenn wir ehrlich sind: So ganz abgeschlossen wirkt „Nowhere Girl“ nicht. Zwar geht es wieder in die Schule zurück, aber die Liebe zu den Beatles ist ungebrochen. Außerdem ist Magali am Ende erst dreizehn. Im Leben ihrer Zeichnerin (du damit auch in ihrem) ist sicher noch viel mehr passiert. Ich will’s lesen.


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