Dieser Blog-Eintrag ist ein Experiment, das seinen Grund darin hat, dass sich die eigenen Überlegungen zu einem Comic durch dessen Autoren überprüfen lassen können. Es geht um „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“, vor kurzem erschienen bei Carlsen und nur der erste, aber mächtige (fast 400 Seiten!) Teil eines – ja, was denn nun? Man könnte meinen, es handelte sich um eine der zahllosen Comicbiographien, die seit einem Jahrzehnt in Deutschland publiziert werden, aber tatsächlich ist es eine kombinierte Biographieautobiographie, wie man gleich zu Beginn sieht. Denn da bekommen wir es erst einmal nicht dem Komponisten Karlheinz Stockhausen zu tun, sondern mit der Kindheit des (auch prominenten) Szenaristen dieses Comics: Thomas von Steinaecker, eines Zeichens hochdekorierter Romancier, Sachbuchautor, Filmemacher und nun eben auch Comicautor.
In Bilder gesetzt hat dessen Stockhausen-Projekt David von Bassewitz, einer der erfolgreichsten deutschen Illustratoren, der in Sachen Comics bislang nur mit „Vasmers Bruder“ von 2014 auffällig geworden ist. Das war ein Band aus dem Zyklus, den der Szenarist Peer Meter historischen Mördern gewidmet hat, und einen anderen Comic aus dieser Reihe, „Gift“, hatte seinerzeit Barbara Yelin gezeichnet. Die wiederum Thomas von Steinaeckers ersten Comic, „Der Sommer ihres Lebens“, mitgeschrieben und illustriert hat. So fügen sich die Dinge.
Wir sind abgeschweift. Was hat Steinaecker mit Stockhausen zu tun, so dass man von einer Biographieautobiographie sprechen kann? Der damals zwölfjährige Thomas von Steinaecker begeisterte sich im Umbruchjahr 1989 für Stockhausens Musik und lernte ihn wenig später persönlich kennen. Beide wurden trotz fast fünfzig Jahren Alter4sunterschied Freunde, und Steinaecker kann deshalb aus eigener Anschauung vom vielfach verschrienen Avantgarde-Mystiker-Komponisten erzählen. Und er erzählt eben auch von sich: was ihn als Kind an Stockhausen faszinierte. So gibt es neben der Komponistenbiographie auch ein Zeitbild der späten Achtziger in „Stockhausen“. Und im noch ausstehenden zweiten Band werden dann wohl die nächsten zwei Jahrzehnte (Stockhausen starb 2007) in den Fokus geraten, wenn die Lebenswege der beiden Männer sich tatsächlich kreuzen. Denn das tun sie im ersten Band noch nicht.
Alles bisher geschriebene entstand vor dem Abend des 7. Februars 2023, an dem ich einen Abend im Frankfurter Literaturhaus moderieren werde, an dem Steinaecker und Bassewitz ihren Comic vorstellen und aus ihm lesen. Wenn nun kursivierte Passagen in diesem Blog folgen, sind es Erkenntnisse, die aus diesem Abend hervorgegangen sind, der mir ermöglichen wird, den beiden Autoren meine Sicht ihres Comics und meine Fragen an ihn zu präsentieren – und von ihnen Letztere beantwortet und Erstere entweder bestätigt oder revidiert zu bekommen.
Zunächst ein Blick in den Comic: Unter Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam | Carlsen kann man die erste vierzig Seiten lesen. Inhaltlich bietet das sehr viel über Steinaecker, noch wenig über Stockhausen. Trotzdem ist die Parallelführung der beiden Kindheiten deutlich: 1989 und 1938, eben jene fünfzig Jahre Abstand und zwei komplett gegensätzliche Systeme und Familien, doch trotzdem sind beide Knaben Getriebene, und sie leben in ihren eigenen Welten. Bei Steinaecker ist es eine popkulturell bestimmte (die Anspielung an „Asterix“ gleich zu Beginn!), bei Stockhausen durch eine uns heute traditionell erscheinende Kultur (Hausmusik, Comedian Harmonists im Radio) geprägte.
Thomas von Steinaecker besuchte Stockhausen in dessen Haus im bergischen Kürten, und wurde Teil der Corona um den Komponisten – wohl als eine Art Maskottchen, dessen noch kindliche Begeisterung schon einher ging mit großem Eifer, das Werk Stockhausens zu verstehen. Dementsprechend wurde er vom Umkreis des „Meisters“, wie Stockhausen von den Weggefährten heute noch genannt wird, akzeptiert, ja gewissermaßen adoptiert – Steinaecker spricht von einer Rlle als „kleiner Bruder“ der Stockhausen-Söhne Markus und Simon, die damals noch als Musiker eng mit ihrem Vater zusammenarbeiteten. Diese Kontakte rissen auch nie ab; sie verschafften Steinaecker einen Vertrauensvorschuss, als er mit seiner Idee, Stockhausens Biographie als Comic zu erzählen, zu den beiden Verwalterinnen des Nachlasses in Kürten ging, und Bassewitz profitierte vom biographischen Archivmaterial, das dadurch bei der Zeichnerarbeit für Detailansichten und Figurenausgestaltung zur Verfügung stand. Und die Stockhausen-Partituren haben Bassewitz an Seitenarchitekturen von Comics erinnert.
Doch noch viel interessanter ist die von Bassewitz gewählte graphische Form: keine Panelumrahmungen, also offene Form – so offen eben wie die erzählte Handlung aus dem subjektiven Blickwinkel von Steinaeckers. Barbara Yelin hatte das bei „Der Sommer ihres Lebens“ genauso gehalten. Ist das eine Steinaecker’sche Vorgabe an seine Zeichner?
Nein, antwortet er, es sei Zufall gewesen, dass beide di3eselbe Entscheidung getroffen hätten. Yelin habe sehr viel mehr Einfluss auf das Szenario genommen, damit habe er erst einmal als Schriftsteller zurechtkommen müssen. Seitens Bassewitz‘ habe es gar keine Veränderungswünsche geben, und der Zeichner betont seinerseits, dass er sich ganz als Dienstleister am Steinaecker’schen Szenario verstanden habe, das ihn durch die darin enthaltene Selbstironie sofort überzeugt habe.
Dann aber vor allem die Visionen, die Bassewitz ins Bild setzt – Klangerfahrungen vor allem. Der Zeichner ist Jahrgang 1975, aber warum sollte er sich nicht von jenen Zeichnern inspiriert haben lassen, die Mitte der achtziger Jahre mit malerischen Mitteln den amerikanischen Comic umkrempelten: Dave McKean und vor allem Bill Szienkiewcz. Wer jemals des Letzteren Miniserie „Stray Toasters“ gesehen hat, dürfte in „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“ einiges bekannt finden. Und es passt jeweils zu dem assoziativen Erzählen der Geschichten.
Natürlich, sagt Bassewitz hätten ihn Szienkiewicz und McKean mit ihren Arbeiten beeindruckt, aber noch mehr Enki Bilal und Moebius, überhaupt die frankobelgischen Comics. Davon habe es als junger Zeichner gelesen, was er kriegen konnte. Bei den Klangvorstellungen er Stockhausen-Figur im Comic habe er aber auch nach Prinzipien der surrealistischen écriture automatique gezeichnet: Ausgehend von der Objektform der Geräuscherzeugung, etwa einem Flugzeug, seien abstrahierter Formen entstanden, um die Vorstellungen abzubilden.
Was für Licht werfen Steinaeckers Vertrautheit und Bassewitz‘ bildende Interpretation auf ein Mammutunternehmen wie „Licht“, den berühmt-berüchtigten siebenteiligen Opernzyklus von Stockhausen, mit dem er Wagners „Ring“ vom Musiktheaterthron stoßen wollte? Und wie kann man überhaupt Töne in Bilder setzen? Genau diesen Fragen synästhetischer Natur stellte sich auch immer wieder Stockhausen als Musikdramatiker. Ist der Comic also der Versuch einer graphischen Umsetzung des Stockhausen’schen Kompositionsprinzips? Und wenn ja: Dokumentiert er Hybris? Und bei wem? Bei Stockhausen oder bei Steinaecker(Bassewitz?
Steinaecker sieht in Stockhausen ein Gegenbild zu sich selbst, denn das Messianische, Selbstbezogene sei seine eigene Sache gerade nicht. Deshalb sei der Comic auch ein Dienst an Stockhausen und dessen Musik, nicht eine Autobiographie. Er selbst höre immer noch jede Woche Stockhausen, daran habe sich trotz Abschied aus dem Umfeld des Komponisten nichts geändert. Bassewitz wiederum, der sich selbst einen „musikalischen Analphabeten“ nennt, ist während der Arbeit nicht für Stockhausens Kompositionen gewonnen worden, doch der Reiz, durch die Arbeit am Comic etwas über dessen Musik zu erfahren, war groß genug.
In Thomas von Steinaeckers letzten Buch vor dem Stockhausen-Comic, „Ende offen“, erschienen 2021, ist eines der darin enthaltenen essayistischen Kapitel über Torso gebliebene (Groß-)Kunstwerke dem „Klänge“-Zyklus gewidmet, an dem Stockhausen bis zu einem Lebensende gearbeitet hat. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Text kein Hinweis auf Steinaeckers persönliche Bekanntschaft mit dem Komponisten zu finden ist. Hat er sich diesen Clou für den damals schon längst in Arbeit befindlichen Comic aufgespart, oder kann man als Comicszenarist offener von sich selbst sprechen als in einem Sachbuch, weil zwischen Ich und Publikum noch die Interpretation des Erzählten durch den Zeichner David von Bassewitz tritt?
Das bejaht Steinaecker entschieden. Über sich selbst zu schreiben könne er sich nicht vorstellen, aber durch die Brechung in Film oder Comic werde es möglich. Und ohne die eigene Geschichte gebe es ja keine Legitimation für den Stockhausen-Comic. Wobei der, wie Steinaecker, sagt, viel Neues gegenüber der bisherigen biographischen Forschung biete. Aus eigenen Gesprächen mit Stockhausen stammt etwa dessen Erinnerung an den Besuch bei der in einer Heilanstalt einsitzenden Mutter und den damaligen dramatischen Verlauf. Dass Stockhausens Mutter im Euthanasieprogramm der Nazis ermordet worden ist, wisse die Öffentlichkeit erst seit zehn Jahren, also nach dem Tod des Komponisten. Ihm aber habe Stockhausen noch davon erzählt.
Eines jedenfalls ist sicher, auch noch ohne Kenntnis der Fortsetzung: Dieser Comic ist in seiner Ausgestaltung ein Meilenstein. Wieviel man davon Thomas von Steinaecker zusprechen muss und wieviel David von Bassewitz, darüber will ich hier noch nicht spekulieren: das frage ich die beiden heute Abend im Frankfurter Literaturhaus.
Und die Antwort ist eigentlich schon durch die vorherigen Äußerungen gegeben worden: Bassewitz hatte gar nicht die Absicht, über Steinaeckers Szenario hinauszuerzählen. Umso beeindruckender sind seine Bildlösungen geworden, die sämtlich am Computer entstanden sind, nachdem die Arbeit an „Stockhausen“ vor sieben Jahren noch klassisch begonnen worden war. Sieben Jahre – der Zeitraum sprengte die Vorstellungen beider Beteiligter, und dass jetzt ein Band erschienen ist, der am Schluss eine Fortsetzung ankündigt (die ähnlich umfangreich ausfallen wird), ist nur dem Umstand zu verdanken, dass beide den Verlag nicht länger warten lassen wollten. Zum Glück sei die Ausgabe sehr gut aufgenommen worden, von der Kritik, aber auch vom Publikum. Das werde das Erscheinen auch des zweiten Bandes bei Carlsen gewährleisten. Dass der voluminöse „Stockhausen“-Comic so prachtvoll gedruckt und dennoch für „nur“ 44 Euro angeboten werden kann, verdankt sich indes einer Kalkulation, die nicht allein Marktgesetzen gehorcht. Aber die Leidenschaft Thomas von Steinaeckers für Karlheinz Stockhausen hat eben ihren Preis.