Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Dreihundertsiebenunddreißig Jahre sind doch kein Abstand!

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Wieder einmal ein Comic, der mir unverlangt zugesandt wurde. Und wieder einer, der mein Interesse geweckt hat, kaum dass ich ihn aufgeschlagen hatte. „Hamburg 1686“ heißt er, und genau um diesen Ort in diesem Jahr geht es. Das ist kein mythisches oder allgemein bekanntes historisches Hamburg, also nicht das Hamburg aus der Störtebeker-Saga und nicht das Hamburg aus dem Feuersturm des Zweiten Weltkriegs. Nicht das Hamburg als wikingerbedrohte Bischofsstadt am Rand der christianisierten Welt und nicht das Hamburg der Auswandererschiffe im neunzehnten Jahrhundert. Es ist das Hamburg einer Zwischenzeit. Der Dreißigjährige Krieg liegt vierzig Jahre zurück, doch dessen Folgen sind noch nicht überwunden. In der dennoch einigermaßen wohlhabenden Kaufmannsstadt tobt ein sozialpolitischer Konflikt. Er wird blutig enden.

Natürlich ist das Vorbild für die Comicerzählung historisch real. Till Lenecke hat sie auf der Grundlage des Sachbuchs „Eine Stadttour durch Hamburg im Jahr 1686“  von zwei Historikern, Claudia Heise und Daniel Bellingrath, gezeichnet, und mit dem Weißblech Verlag hat sich ein Haus der Publikation angenommen, das schon immer aufs alternative deutsche Comicgeschehen geblickt hat – hier einmal nicht avantgardistisch alternativ, sondern traditionell alternativ: „Hamburg 1686“ kommt als schwarzweiße realistisch gezeichnete und in den Dekors akribisch recherchierte Bildergeschichte daher – in allem also das Gegenteil der aus den Hochschulen stammenden neuen Welle höchst subjektiver Autorencomics. Wer’s nicht glaubt, sehe es sich auf den leider nur vier Beispielseiten der Verlagshomepage an: Hamburg 1686 (weissblechcomics.com).

Was ich an diesem Comic mag, ist Folgendes: Erst einmal lerne ich etwas. Und das, was man daraus über die Geschehnisse des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts in Hamburg erfährt, darf Relevanz fürs Geschichtsverständnis auch noch folgender Epochen mindestens bis zum Ersten Weltkrieg beanspruchen. Die spezifische Gliederung und Verfasstheit eines Handelsstadtstaats erzählt mehr über Sozial- und Demokratiegeschichte als Historiographie zu Monarchien.

Dann mag ich den Anspruch von „Hamburg 1686“: Geschichte sichtbar zu machen. Till Lenecke, 1972 in Hamburg geboren, lehrt mit diesem Impetus seit vergangenem Jahr an der Hafen-City-Universität und hatte zuvor eine Dozentur an der Burg Giebichenstein in Halle/Saale inne. Jeder, der sich für Comics interessiert, weiß, dass an der Burg seit vielen Jahren Georg Barber alias ATAK Professor für Illustration ist – seine Kunsthochschulklassen sind wichtige Teile der deutschen Comicrenaissance. Gleichzeitig sind wohl kaum gegensätzlichere Bildästhetiken denkbar als die von Lenecke und ATAK. Aber dass diese beiden Zeichner trotzdem an derselben Hochschule gelehrt haben, zeigt die Offenheit des Metiers.

Natürlich haben es pädagogisch interessierte Comics wie „Hamburg 1686“ schwer am Markt, zumal bei lokalem Fokus. Und das ist schade, denn eine dynamische Szene braucht auch handwerklich herausfordernde Projekte, die nicht gleich vom allerinnerlichsten Antrieb der Autoren getrieben sind. Lenecke, Heise und Bellingradt stellen ihr Erzähltalent in den Dienst von Wissensvermittlung, nicht primär der Selbstverwirklichung. Das verlangt nach Bescheidenheit und Dienst ebenso am Medium wie am Publikum. Möge dieses Regionalprodukt Aufmerksamkeit auch jenseits der Elbufer finden.


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