Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Chimären und andere Körper

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Man könnte es sich leicht machen und den Comic „Hort“ der Hamburger Zeichnerin Marijpol zum Buch der Stunde erklären. Das täte ihm unrecht, denn auch wenn es wohl kein anderes graphisches erzählendes Werk gibt, das body positivity und Genderfluidität intensiver ins Szene setzt, geht doch das was in „Hort“ erzählt wird, weit über diese omnipräsenten Schlag-, bisweilen auch Erschlagworte des woken Narrativs hinaus. Marijpols Comic, kürzlich bei der Edition Moderne erschienen und satte 360 Seiten stark, hat Raum auch für die Themen Mutterschaft und Klassismus, für Doping, Kinderarmut, Großstadtanonymität – und damit wären wir noch längst nicht fertig.

Es gibt sechs Hauptfiguren in Hort: drei erwachsene Frauen und drei noch ziemlich kleine Kinder (zwei Brüder und ihre etwas ältere Schwester). Die Frauen wohnen zusammen: Petra ist Bodybuilderin, Ulla von überaus kräftigem Körperbau und Denise schließlich durch eine Operation halb Mensch, halb Schlange – ihr rechtes Bein und ihr linker Arme sind die äußeren Enden dieses Reptils, und auch wenn Denise behauptet, dass sie die Kontrolle über ihren Chimärenkörper hat, besitzt die linke Hand doch ihren eigenen Kopf, nämlich das Schlangenhaupt. Und so ganz klar ist die Dominanz im Körper von Denise nicht. Entsprechend misstrauisch begegnet ihr die Umwelt, aber das ist bei der starken Petra und der riesigen Ulla kaum anders. Warum, davon bekommt eine Vorstellung, wer sich die Leseprobe ansieht: Marijpol: «Hort» – Edition Moderne.

Die Körpermanipulation zeigt schon: „Hort“ ist in einer Zukunftsgesellschaft angesiedelt, aber einer in moderatem zeitlichen Abstand zur unseren, und die Ängste und Abneigungen gegenüber als andersartig empfundenen Menschen sind noch dieselben wie heute. Überhaupt gibt es außer der manipulativen Mensch-Tier-Vermischung (für die Denise nur ein Beispiel ist) und dem Ausmaß der Sitzmöbel (in Form gigantischer Hände) in der Wohnung der drei Frauen keine Abweichungen vom uns vertrauten Leben, aber diese Science-Fiktionalisierung gestattet Marijpol en freieres Erzählen. Wie Ulla zu ihrem Körperbau kam oder Petra zu ihren Muskelproportionen, bleibt im Gegensatz zum gesellschaftlichen Stigma von Denise unerwähnt. Betreffs des Bodybuildings erfährt man allerdings, dass dabei nicht alles mit gesundheitsrechter Ernährung vor sich ging. Dieser Strang der Erzählung dürfte die Keimzelle des gesamten Bandes „Hort“ gewesen sein.

Die drei Kinder, Ilse, Jörg und Dieter, leiden an einer genetischen Störung, weil die Eltern – so zumindest die Vermutung der drei Frauen – Kinder mit flauschigem Katzenfell haben wollten. Wo Schlangenglieder anoperiert werden können, sollte Fellapplikation auf menschlicher Haut kein größeres Problem sein. Dadurch sind auch die Geschwister Außenseiter, doch ihr Aussehen wird gar nicht groß thematisiert. Viel wichtiger ist, dass ihre alleinerziehende Messy-Mutter sie regelmäßig auf längere Zeit verlässt, so dass die Kinder in der völlig überfüllten Wohnung zurückbleiben und für sich selbst sorgen müssen. Dass das nicht normal ist, empfinden sie durchaus, obwohl sie es doch gar nicht anders kennen.

„Hort“ heißt der Comic, weil die drei Frauen für die drei Kinder einen solchen bieten: Sie nehmen sich der Verwaisten an und bieten ihnen erstmals so etwas wie Geborgenheit – als selbst Ausgegrenzte. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein, und was nun wirklich schön ist, das ist, dass am Ende wider allen Erwartungen und aller in Marijpols Gesellschaftsbeobachtung spürbaren Skepsis die Sache gut ausgeht. Und was der Gipfel ihres Erzählgeschicks ist: Wir bekommen die Mutter der drei Kinder nie zu Gesicht und gewinnen sie trotzdem lieb. Warum, das ist mir bis heute immer noch nicht klar. Aber es ist so.

Deutet nun die monochrome lila Farbgebung auf einen feministischen Comic hin? Der bewusst mit Mut zur Lücke gewählte Stil (die Hintergründe mal akribisch detailliert, dann nahezu abstrakt) auf die Unvollkommenheit jeglichen Körperverständnisses? Mag so sein, ist aber nicht wichtig für die Wahrnehmung eines der verblüffendsten deutschsprachigen Comicprojekte der jüngeren Zeit. Auf dass man sich einlassen muss, um selbst die ersten Ekelgefühle angesichts der körperlichen Deformationen zu überwinden, aber wie man es sich wünscht, wirken sie schließlich ganz normal, wenn man sich auf die Akteure einlässt. Im Comic geht das leicht. Und im richtigen Leben? Diese Frage ist die wohl wichtigste Leseerkenntnis aus „Hort“.


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