Das Besondere an „Bella Ciao“ sind die Zeitebenen. Ansonsten ist alles so, wie wir es von Barus Comics seit nahezu vierzig Jahren kennen: ohnehin grandios. Nur diesmal noch einfallsreicher. Dabei erzählt Baru scheinbar immer dasselbe: Er ist der Chronist der France profonde, aber einer anderen als der üblich ländlichen: eines Frankreichs der kleinen Leute, die sich aus den Familien von eingewanderten Industriearbeitern rekrutiere, in seinem Fall eingewandert aus Italien nach Lothringen, wie Barus Eltern, das Ehepaar Barulea. Solche Italiener in Frankreich gaben ihren Kindern zwar französische Vornamen (Baru heißt bürgerlich Hervé Barulea), aber sie sprechen untereinander weiterhin Italienisch. Manche sogar ein Leben lang ausschließlich, also nie mit Franzosen. Wie Pasquale in „Bella Ciao“.
Nehmen wir ihn, die unvergesslichste Figur dieses Comics, als Beispiel für die Zeitebenen. Im Zentrum des Geschehens steht die Kommunion von Baru selbst, denn dieser Comic gibt sich autobiographisch. Also sind wir im Jahr 1955 oder 1956, denn Baru kam 1947 zur Welt. Man erkennt die Zeitebene der an der abendlichen Festtafel ausufernden Familienfeier an den nahezu monochrom gelben Hintergründen. Nur bisweilen werden Details des Hausrats oder der Wohnung selbst ins Bild gesetzt, alles konzentriert sich auf die große Runde aus Angehörigen und Freunden der Familie, die sich eine Geschichte nach der anderen erzählen oder durch ihre Anwesenheit an ihre jeweiligen Schicksale erinnern., die dann Baru aus der heutigen Sicht Revue passieren lässt.
Was sich vor der Mitte der fünfziger Jahre abspielt, ist im Kontrast zum intensiven Gelb der Kernerzählung farblich wie ausgeblichen, bisweilen fast schwarzweiß mit jeweils einem kräftigen Farbakzent wie etwa dem Rot im ersten Kapitel, „Camizia rossa“ (Rothemd), nach dem berühmten Accessoire der Garibaldi-Anhänger (BELLA_CIAO_2_inhalt_001-016_v1.pdf (edition52.de) – leider ist diese Leseprobe der Edition 52 schwarzweiß gehalten. Warum? Keine Ahnung, obwohl es auch so gut aussieht). Diese Farbakzentuierung fand auch schon im ersten Band von „Bella Ciao“ statt, der mit einem ausländerfeindlichen Angriff von Franzosen auf die unerwünschten Zuwanderer begann. Baru geht gerne von der großen Geschichte ins Spezielle. Hier, im zweiten Band der Trilogie, „Bella Ciao (due)“ – der dritte ist in Frankreich schon erschienen, aber die Edition 52 lässt sich als deutscher Verlag nicht hetzen bei ihren sorgfältigen Übersetzungen –, wird auch wieder nach dem großen historischen Auftakt mit einer Episode aus dem Ersten Weltkrieg, in dem Hervés Großvater gekämpft hat, alles ganz privat – und doch politisch. Womit wir wieder bei Pasquale angelangt wären.
Der ist einer der Kommunionsgäste und berühmt-berüchtigt für seine spontanen Aufbrüche mit dem Fahrrad in Richtung Italien, wenn ihn das Heimweh übermannte. Doch er kam nie weit. Pasquale ist ein Beispiel für jene italienischen Gastarbeiter, die sich immer nur zu gast, aber nie zu Hause in Frankreich fühlten und auch nie Französisch sprachen. Bis zum Jahr 1979, als eine Demonstration gegen die Schließung der Fabrik, in der Pasquale arbeitete, eskalierte und er als einer der Protestierenden im Fernsehen gezeigt wurde und in die Kamera ein paar französische Sätze sagte: zur Verblüffung aller, die ihn kannten. Wenig später brach er wider nachts mit dem Fahrrad auf, und diesmal kam er nicht zurück. Er starb am Straßenrand. Es ist die bewegendste Geschichte bislang in „Bella Ciao“, was einiges heißen will.
Sie spielt zuletzt wie gesagt 1979, also ein Vierteljahrhundert nach der Kommunionsfeier. Deshalb ist sie im Gegensatz zu den vorgängigen Episoden bunter gehalten als die Kernerzählung. So signalisiert Baru auf einen Blick die Position in der Chronologie, obwohl es wie in tatsächliche Familiengesprächen ständig durcheinander geht bei den Personen und Zeiten. Einzeln Kapitel von „Bella Ciao“ bieten vier Zeitebene, die von Panel zu Panel wechseln können. Die späteste ist übrigens streng schwarzweiß gehalten: Sie zeigt Baru im heutigen Alter, also längst jenseits der siebzig, bei den Recherchegesprächen für „Bella Ciao“ – die vor allem ein großer Lobpreis für die Kochkünste seiner Informantinnen aus befreundeten italienischstämmigen Familien sind. Inklusive gezeichneter Rezepte zum Nachkochen, diesmal Tiramisu.
Klingt das jetzt gefällig? Es ist gefühlig, man merkt Barus persönliche Haltung, seine Nostalgie, die immer schon ein Antrieb seines Erzählens war, aber hier zum ersten Mal auch wohlig wird, nicht mehr nur sarkastisch wie in den großen Klassikern wie „Quequette Blues“, „Autoroute du soleil“ oder „Sur la route encore“. Aber gefällig ist hier gar nichts, auch wenn mir „Bella Ciao exzellent gefällt. Das Buch ist durchzogen von Dramen, diesmal namentlich in einer Episode, die im Faschismus unter Mussolini spielt. Ständig sind in den Bänden dieser Trilogie Barus eigener Zorn und seine Trauer spürbar angesichts der Schicksale, um die es darin geht. Und gleichzeitig die Faszination des Autors für diese seelen- und blutsverwandten Außenseiter, die sich ihre eigene Welt geschaffen haben. „Bella Ciao“ ist der beste Comic über Zuwanderung, den es gibt. Gerade weil er so sprunghaft ist, wodurch das Kaleidoskop der individuellen Leben zum großen Gesamtbild wird, das einem das Gefühl gibt, mitten in dieser italienischen Kolonie zu sitzen und sie zu verstehen in all ihrer Lebensfreude, ihrem Heimweh, ihrer Wut und ihren Anekdoten. Ich kann die des dritten Bandes kaum abwarten.