Es ist sechs Jahre her, das überraschte mich ein brasilianischer Comic, der den völlig unverständlichen Titel „Tungstênio“ trug. Sein Autor: Marcello Quintanilha: Ein Krimi von höchsten Gnaden – Comic (faz.net). Ich konnte damals nicht behaupten, regelmäßig Comics aus Südamerika gelesen zu haben, nur Argentinien mit seinem reichen Erbe an Klassikern war da eine Ausnahme, aber über Comics aus Brasilien wusste ich so gut wie nichts. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, doch nun ist ein zweiter Band von Quintanilha auf Deutsch erschienen, und der ist noch besser als der erste. Er heißt „Hör nur, schöne Márcia“, und übersetzt hat ihn wieder Lea Hübner, hierzulande die unermüdliche Vermittlerin lateinamerikanischer Comics.
Es ist nun nicht so, dass Hübner mit „Hör nur, schöne Márcia“ eine Entdeckung hätte machen können. Die hatte sie seinerzeit ja mit „Tungstênio“ gemacht, und der nun erschienene Band des 1971 geborenen Comicautors Quintanilha, der mittlerweile in Brasilien auch einen ersten Roman publiziert hat, gewann 2022 in französischer Übersetzung den Hauptpreis Fauve d’or beim Comicfestival von Angoulême, mithin die prestigeträchtigste europäische Auszeichnung für Comics überhaupt. Die deutsche Übersetzung ist dennoch keine Selbstverständlichkeit, und dass nunmehr nach dem Avant-Verlag die Berliner Konkurrenz von Reprodukt zum Zuge gekommen ist, lässt vermuten, dass „Tungstênio“ ungeachtet seiner Qualität kein großer Verkaufserfolg gewesen ist. Ich wage zu behaupten, dass es auch „Hör nur, schöne Márcia“ nicht ganz leicht haben wird.
Das liegt, wie schon angedeutet, nicht an dem, was Quintanilha erzählt – wieder eine Art Kriminalgeschichte –, sondern an seiner Graphik. So sieht der Comic aus: Hör nur, schöne Márcia – Reprodukt, und an den dort als Leseprobe beigegebenen Seiten kann man sehen, dass die ungesunde Gesichtsfarbe der Protagonistin kein reiner Cover-Effekt ist: Márcia, ihres Zeichens Krankenschwester und Mutter einer gerade erwachsenen Tochter, wird durch das zarte Lila ihres Teints als dunkelhäutige Brasilianerin charakterisiert, während die „Weißen“ im Comic mit hellblauer Haut daherkommen. Das ist gewöhnungsbedürftig. Mancher wird es hässlich nennen.
Aber es ist konsequent, denn es geht Quintanilha um sozialen, nicht um ästhetischen Realismus. Thema von „Hör nur, schöne Márcia“ ist das (Über-)Leben im Stadtmoloch von Rio de Janeiro, dessen ärmere Viertel in der Hand von Drogenkartellen sind, die deshalb für junge Bewohner als einzige Möglichkeit erscheinen, ihre prekären Zustände in den Favelas hinter sich zu lassen – so verhält es sich auch im Falle von Márcias Tochter Jaqueline. Márcia selbst dagegen ist eine rundum ehrliche Haut, die Seele ihrer Krankenhausabteilung und ein Glück für jene Patientinnen, die sie bisweilen nebenbei auch noch daheim betreut, um sich ein bisschen dazuzuverdienen. In Aluísio hat sie einen Lebenspartner, der ebenfalls legal durchs Leben kommen will und es dementsprechend schwer hat. Zumal Jaqueline ihn nicht als Mann im Haus akzeptiert.
Vor der Folie dieser Dreierkonstellation entfaltet Quintanilha nun seine Geschichte um die Selbstzerfleischung eines der Drogenkartelle, in die Márcias Familie ungewollt hineingezogen wird. Wie er das erzählt, ist schon einmal grandios, denn die Figuren um das Zentrum aus Márcia, Aluísio und Jaqueline sind mindestens genauso interessant wie die Hauptpersonen. Und wie Quintanilha sie zueinander in Konstellation setzt, verrät einen höchst geschickten Geschichtenarrangeur.
Doch die größte Meisterschaft beweist sich gerade in dem, was auf den ersten Blick als größte Schwäche erscheinen mag: seinen Zeichnungen. Panelrahmen gibt es nicht, so bekommen die Seitenarchitekturen einen organischen, fließenden Charakter. Die Detailgenauigkeit bei den Dekors ist bestechend – und wichtig, weil es um kleine Elemente geht, die das Geschehen zusammenhalten. Man übersieht sehr schnell etwas Entscheidendes, aber es war immer da, we man später beim Zurückblättern feststellen muss. Und dann ist da auch noch die Einbeziehung von Handykommunikation, die uns einen Einblick in die Strukturen der brasilianische Gesellschaft gibt – woraus schließlich die Möglichkeit für Márcia entsteht, ihre Tochter aus dem (ganz buchstäblich gemeinten) Schussfeld zu nehmen. Aber um welchen Preis?
Es ist ganz großes Kino, was Marcello Quintanilha (die Namensähnlichkeit mit seiner Protagonistin dürfte klares Zeichen für eine Identifikation des Autors mit der Hauptfigur sein, die weit über das in „Tungstêrio“ Gezeigte hinausgeht) hier bietet – auch insoweit wörtlich zu verstehen, weil man sich solch genau gezeichnete Geschichten auch verfilmt wünscht. Da, wo ein Comic notwendig leise sein muss, weil selbst die aggressivsten Lautmalereien nicht den Krawall zeigen können, den Bandengewalt hervorbringt, würde eine Tonspur Erstaunliches bewirken können. Allerdings müsste eine Verfilmung von „Hör nur, schöne Márcia“ sich auch solch eine Zeit nehmen, wie sie Quintanilha seinen Lesern abverlangt. Das ist keine Ex-und-hopp-Lektüre, das ist auch nicht nur einfach Gangstergenre oder Sozialstudie, das ist große Comicliteratur, die auch große Aufmerksamkeit voraussetzt. Kurz: ein grenzerweiterndes Werk. Nicht nur geographisch.