Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Obdachlos in Ambivalenz

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Man sollte als Comicleser und -sammler nicht umziehen. Zumindest nicht, wenn man dem Heftalter entwachsen ist, und das ist bei mir schon eine Weile so. Alben sind schwer, und die in den letzten beiden Jahrzehnten weltweit populär gewordenen Gesamtausgaben von Comicklassikern oder solchen, die es einmal werden sollen (auch dafür ich eine Gesamtausgabe gut), sind noch schwerer, und zudem trennt man sich ja dann doch nur selten von den schon vorhandenen Einzelausgaben. Kurt: Ich sitze abends im Chaos von unausgeräumten Bücherkartons und noch planlos aufgestapelten Comics auf dem Fußboden in meiner Wohnung, in die all das überführt werden musste, was sich binnen achtzehn Jahren in der alten angesammelt hatte und dort viel leichter unterzubringen gewesen war als hier.

Aber ist habe zumindest eine Wohnung, und was das fürs menschliche Wohlbefinden bedeutet, kann man aus einem eindrucksvollen Bildreportagebuch erfahren, das Sebastian Lörscher kürzlich beim Berliner Jaja Verlag veröffentlicht hat: „Schatten der Gesellschaft“. Man merkt es schon an meiner Wortwahl: Ein reiner Comic ist das nicht, aber wer meine zwei alten Blog-Einträge, die bislang schon Sebastian Lörschers von mir bewundertem Werk galten (Indien im roten Rahmen – Comic (faz.net), Muskelzuwachs garantiert – Comic (faz.net)), noch vor Augen hat, der weiß, dass der 1985 geborene Autor sich längst weit vom traditionellen Comicverständnis entfernt hat zugunsten einer Textbildkombination, die daraus genauso schöpft wie aus der Bilderbuchästhetik. „Graphische Geschichten“ nennt er das selbst ganz einfach, wie man auf seiner Website erfahren kann: Graphische Geschichten – Sebastian Lörscher (sebastian-loerscher.de).

Lörscher versteht sich als Alltagsbeobachter, und er war dafür bisweilen schön weit unterwegs gewesen: in Indien etwa oder auf Haiti. Diesmal brauchte er nur einige S-Bahn-Stationen weit zu fahren in seinem Wohnort Berlin, den n das Ziel seiner jüngsten Reportagearbeit waren Obdachlosenunterkünfte, die er zu verschiedenen Jahreszeiten aufsuchte. Eine war am Bahnhof Moritzplatz, die andere bei der Station Frankfurter Allee. Mitten in der Stadt nach Berliner Maßstäben also.

Mitten unter uns, könnte man auch sagen, aber trotzdem gehen wir an solchen Orten meist achtlos vorbei. Lörscher nicht. Er suchte für seine Reportage das Gespräch mit den hier untergeschlüpften Obdachlosen, und jedem Einzelnen von ihnen widmet er ein Porträt – ein geschriebenes, in dem wiedergegeben wird, was ihm erzählt wurde, und ein gezeichnetes, mit dem Lörscher das Aussehen seiner Gesprächspartner festhält. Es sind meistens Männer, alle Altersstufen sind vertreten, und neben den Porträtzeichnungen hat Lörscher seinem 125 Seiten starken Band auch einige Schauplatzansichten beigefügt, die auf bedrückend berückende Weise die Alltagssituation in den provisorischen Unterkünften festhalten.

Die Ambivalenz der Obdachlosen gegenüber ihrer eigenen Lage ist das bestimmende Motiv. Natürlich gibt es Stolze unter ihnen, die mit sich und ihrem Freiheitsgefühl im Reinen sind, aber die meisten wollen wieder zurück in eine kommodere Existenz, sofern sie nicht gleich ganz bürgerlich sein muss. Und viele sprechen auch offen über die heiklen Aspekte der Obdachlosigkeit, selbst in solchen Hilfseinrichtungen.

Es gibt immer noch viel zu wenig solche Reportagecomicprojekte in Deutschland, auch weil es im Gegensatz etwa zu Frankreich keine Pressepublikationen gibt, die sich dafür regelmäßig interessieren. Dabei führt „Schatten der Gesellschaft“ vor, wie ausdrucksstark diese Darstellungsform sein kann. Lörscher ist grafisch eher minimalistisch unterwegs, doch die schnellen skizzenartigen Zeichnungen mit wenig Farbeinsatz sind trotzdem präzise, und doppelt reizvoll werden sie, weil Lörscher sie meist zweimal präsentiert: einmal als entindividualisierte Version, die nur Umrisse und Strukturen der Gestalten bietet, bevor dann etwas später die erkennbare Fassung folgt. Zwischendurch haben wir gelesen, was diese Menschen erzählen, und so hat sich auch bei uns ein Bild gebildet, das noch unbeeinflusst von dem war, was Lörscher gezeichnet hat. So geschickt kann man Bilderästhetik einsetzen. Hier zu sehen: Schatten der Gesellschaft – Jaja Verlag.

Sofort will ich Lörschers alte Werke wiederlesen, doch die liegen noch in irgendeinem der Kartons. Dass er jetzt zu Jaja gefunden hat, nachdem er auch schon mal im Eigenverlag veröffentlichen musste, ist höchst erfreulich. Dass Jaja durch ein (hochverdientes) Sabbatical seiner Verlegerin Annette Köhn derzeit den Autoren des Hauses die Öffentlichkeitsarbeit für deren Bücher überlässt, macht es den Titeln schwierig. Ich bekam mein Exemplar von Sebastian Lörscher selbst zugeschickt. Der Buchhandel aber wird zuverlässig beliefert. Kaufen lohnt, und mit 15 Euro ist der Band spottbillig. Zudem geht jeweils ein Euro vom Verkaufserlös an eine Berliner Tafel. Lörscher gibt seinen Gesprächspartner also etwas zurück.


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