Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Zeugnisse des Unvorstellbaren

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Jan Blažek wurde 1977 geboren, mehr als dreißig Jahre nach Kriegsende. Als er studierte, war seine Heimat, die Tschechoslowakei, den Zwängen des Warschauer Pakts entkommen.  Damit gehört der tschechische Dokumentarfilmer einer Generation an, die unbefangen auf die Vergangenheit blicken konnte, vor allem auf die Verbrechen an der deutschstämmigen Bevölkerung nach der Befreiung der von den Nazis zerschlagenen und teilbesetzten Tschechoslowakei. Den Zorn der Tschechen auf die Besatzer wird jeder verstehen, die Exzesse an der seit Jahrhunderten dort ansässigen deutschen Volksgruppe – Vertreibung, Plünderung, Mord – sind dennoch der Tiefpunkt tschechischen Geschichte.

Blažek hat Stimmen von deutschen Zeugen der damaligen Aktionen gesammelt und auf der tschechischen Website „Memory of Nations“, die historische Ungerechtigkeiten dokumentiert,  imNetz zugänglich gemacht (Memory of Nations). Doch damit nicht genug. Von dem Schriftsteller Marek Toman ließ er fünf dieser dokumentierten Erinnerungen zu Szenarios von Comics umarbeiten, die dann von tschechischen Zeichnerinnen und Zeichnern als Comics umgesetzt wurden. Vor zwei Jahren erschien die Originalausgabe beim Prager Verlag Post Bellum. In der Übersetzung von Raija Hauck hatte der Balaena Verlag aus Landsberg am Lech auf Deutsch schon wenig später nachgezogen.

Leider ist das bislang nicht breit bekannt geworden, der deutsche Verlag bietet nicht einmal eine Leseprobe, und auch vom tschechischen Original gibt es nur spärliche Eindrücke im Netz zu sehen: Odsunuté děti, Marek Toman / Jan Blažek (pametnaroda.cz). Dabei ist das Comicprojekt vorbildlich und auch ästhetisch durchaus reizvoll. Die reichste Anschauung erhält man als Zugabe zu einem Radio-Interview mit Blažek: Comic-Buch: Deutsche Zeitzeugen erinnern sich an ihre Kindheit in Böhmen und in Mähren | Radio Prague International. Eine der fünf Episoden, gezeichnet von Stanislav Setinský nach Erinnerungen von Kurt Kempe, erhielt 2021 den tschechischen Muriel-Comicpreis, und das gesamte Buch wurde im selben Jahr in die Liste der besten Kinderbücher des Landes aufgenommen.

„Kinderbuch“? Ja, insofern als wir es mit den Erinnerungen von heute greisen Menschen zu tun haben, die unmittelbar nach dem Kriegsende aber Kinder waren – andere Zeitzeugen leben ja kaum mehr. Also ist auch die Perspektive auf die damaligen Schrecken eine kindliche und deshalb besonders eindrucksvoll, weil das Unbegreifliche darin aufgehoben ist. Zugleich erzählten die sechs ehemaligen deutschen Kinder – vier Männer (neben Kempe noch Franz Gruss und zusammen erzählend Emil Baierl und Friedrich Reithmeier) sowie zwei Frauen (Rosemarie Kraus und Annelies Hennig), deren Zeugnisse dann als Comics umgesetzt wurden (die Männergeschichten von Zeíchnern, die Frauengeschichten von Zeichnerinnen)  – auf der Grundlage ihrer Erfahrungen seither, also als längst in Deutschland lebende Vertriebene, die auch über Aussöhnung oder Unverständnis berichten. Kinder können dieses Buch verstehen, aber Erwachsene brauchen nicht zu befürchten, dass es zu schlicht gehalten ist.

Die geschilderten Erlebnisse sind so unterschiedlich wie die verwendeten Zeichenstile: Jakub Bachorík, Magdalena Rutová, Františka Loubat, Jindřich Janíček und eben der schon erwähnte Setinský bringen ihre jeweils eigenen graphischen Vorstellungen ein. Janíček zum Beispiel legt seine Bilder malerisch an, Rutovà verwendet linolschnittähnliche Formen. Farben und Schwarzweiß wechseln ab, aber es dominieren in ersterem Fall gedeckte Töne, die die Kälte des Geschehens dokumentieren. Aber auch Menschlichkeit kann man erfahren in den Erinnerungen, auch wenn niemandem der fünf Deutschen der Heimatverlust erspart geblieben ist – und einige von ihnen nahe Angehörige während der Vertreibung sterben sehen mussten. In den Comics wird ein Schrecken sichtbar, denn man sich kaum vorstellen kann, und der doch wieder aktuell ist in diesen Kriegszeiten, zu denen in der Ostukraine auch Vertreibungen gehören.


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