Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Mieterschutz als Politikziel

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Meines Wissens hat dieser Comic in Deutschland wenig Beachtung gefunden, dabei ist er ein profunder Einblick in die Mechanismen der Politik. Gut, der amerikanischen Politik, zudem auf Bundestaatsebene (New York) und am Beispiel einer hierzulande unbekannten Politikerin namens Julia Salazar. Ein Jahr lang hat Sofia Warren, eine junge Zeichnerin, die aber schon für den „New Yorker“ arbeitet, Salazars Arbeit begleitet: zunächst ihre Kampagne im Senatswahlkampf von New York und dann ihre ersten Monate als Abgeordnete im Bundestaatsparlament der Hauptstadt Albany. Dabei drehte sich Salazars Engagement als Vertreterin eines Wahlkreises aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn vor allem um die Frage des Mieterschutzes.

Das klingt schon interessanter für hiesiges Publikum, denn worum gäbe es auf kommunaler Ebene derzeit mehr Streit als eben um die Wohnungsnot. Nun ist die amerikanische Situation schwer übertragbar, und doch sind die Probleme ähnlich. Salazar kandidierte als „sozialistische Demokratin“, als für den linken Flügen von Joe Bidens Partei, allerdings noch zu Zeiten der Präsidentschaft von Donald Trump. Der Comic deckt den Zeitraum von Sommer 2018 bis Dezember 2019 ab.

Er heißt „Radical“ – My Year with a Socialist Senator“, aber graphisch ist er alles andere als radikal, wie man sich auf Sofia Warrens Website ansehen kann: Radical — Sofia Warren. Konventioneller gezeichnet geht es kaum (auch Warrens Kollegin Sarah Glidden hat ihre Comicdokumentationen schon in diesem Stil gezeichnet), aber das schadet nichts, denn die semirealistische Mainstream-Ästhetik lenkt nicht von dem ab, wovon erzählt wird, und das ist ein komplexes Geflecht von Interessen und Einflussnahmen, bei dem das Team um Salazar viel mehr in den Mittelpunkt als die Abgeordnete selbst. Am Ende versteht man einiges von grassroots politics, wie sich auf lokaler Ebene immer wichtiger werden, und sogar etwas vom amerikanischen Mietrecht.

Bisweilen ist das harte Kost, und warum sich kein deutscher Verlag für die Übersetzung der 320 Seiten interessiert hat, wird damit klar. Aber immerhin ist „Radical“ bei Top Shelf erschienen, dem wichtigsten Independent-Comicverlag der vereinigten Staaten; eine Empfehlung ist das allemal. Trotzdem hat es seit der Publikation mehr als ein Jahr gedauert, bis ich das Buch gesehen habe: Ein Bekannter brachte es mir von einer Amerikareise mit. Danke, Herr Pruggmayer!

Sofia Warren hat viel von Joe Sacco gelernt, vor allem auch die Einbeziehung ihrer eigenen Person in die Geschichte. Comicjournalismus deckt die Umstände seiner Entstehung konsequenter offen als die andere Berichtsmedien, ist meist auch persönlicher gehalten – an der Sympathie von Warren für Salazars Politik lässt das Buch keinen Zweifel.

Große Politik spielt nur insofern eine Rolle, als Trumps Wahlsieg von 2016 ein Startschuss für viele junge Menschen war, um aus Widerstand gegen den neuen Präsidenten und dessen Agenda in die Politik zu gehen. „Radical“ ist also die Situationsaufnahme einer anderen Konstellation als heute, und dass die beobachtete Zeitspanne vor der Pandemie lag, macht die Darstellung zusätzlich historisch, obwohl der Abstand so gering ist. Am Schluss, im letzten Panel, hat Sofia Warren ihren Arbeitstisch verlassen und kündigt an, künftig vielleicht noch etwas anderes tun zu wollen, als nur zuzuschauen. Aber ich gebe zu, dass ich neugieriger wäre, von ihr eine Aktualisierung zu bekommen. Julia Salazar war 2018 erst achtundzwanzig und ist seitdem wiedergewählt worden, ihre noch jugendliche Begeisterung könnte sich im Räderwerk von Albany abgenutzt haben, aber wie auch immer: Es wäre interessant, aus „Radical“ ein Langzeitprojekt zu machen. Das gibt es noch nicht auf dem Feld der Comicdokumentationen. Sofia Warren wäre selbst jung genug, um es anzugehen.


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