Wieder einmal ein Comic, der mir unverlangt zugesandt wurde. Und wieder einer, der mein Interesse geweckt hat, kaum dass ich ihn aufgeschlagen hatte. „Hamburg 1686“ heißt er, und genau um diesen Ort in diesem Jahr geht es. Das ist kein mythisches oder allgemein bekanntes historisches Hamburg, also nicht das Hamburg aus der Störtebeker-Saga und nicht das Hamburg aus dem Feuersturm des Zweiten Weltkriegs. Nicht das Hamburg als wikingerbedrohte Bischofsstadt am Rand der christianisierten Welt und nicht das Hamburg der Auswandererschiffe im neunzehnten Jahrhundert. Es ist das Hamburg einer Zwischenzeit. Der Dreißigjährige Krieg liegt vierzig Jahre zurück, doch dessen Folgen sind noch nicht überwunden. In der dennoch einigermaßen wohlhabenden Kaufmannsstadt tobt ein sozialpolitischer Konflikt. Er wird blutig enden.
Natürlich ist das Vorbild für die Comicerzählung historisch real. Till Lenecke hat sie auf der Grundlage des Sachbuchs „Eine Stadttour durch Hamburg im Jahr 1686“ von zwei Historikern, Claudia Heise und Daniel Bellingrath, gezeichnet, und mit dem Weißblech Verlag hat sich ein Haus der Publikation angenommen, das schon immer aufs alternative deutsche Comicgeschehen geblickt hat – hier einmal nicht avantgardistisch alternativ, sondern traditionell alternativ: „Hamburg 1686“ kommt als schwarzweiße realistisch gezeichnete und in den Dekors akribisch recherchierte Bildergeschichte daher – in allem also das Gegenteil der aus den Hochschulen stammenden neuen Welle höchst subjektiver Autorencomics. Wer’s nicht glaubt, sehe es sich auf den leider nur vier Beispielseiten der Verlagshomepage an: Hamburg 1686 (weissblechcomics.com).
Was ich an diesem Comic mag, ist Folgendes: Erst einmal lerne ich etwas. Und das, was man daraus über die Geschehnisse des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts in Hamburg erfährt, darf Relevanz fürs Geschichtsverständnis auch noch folgender Epochen mindestens bis zum Ersten Weltkrieg beanspruchen. Die spezifische Gliederung und Verfasstheit eines Handelsstadtstaats erzählt mehr über Sozial- und Demokratiegeschichte als Historiographie zu Monarchien.
Dann mag ich den Anspruch von „Hamburg 1686“: Geschichte sichtbar zu machen. Till Lenecke, 1972 in Hamburg geboren, lehrt mit diesem Impetus seit vergangenem Jahr an der Hafen-City-Universität und hatte zuvor eine Dozentur an der Burg Giebichenstein in Halle/Saale inne. Jeder, der sich für Comics interessiert, weiß, dass an der Burg seit vielen Jahren Georg Barber alias ATAK Professor für Illustration ist – seine Kunsthochschulklassen sind wichtige Teile der deutschen Comicrenaissance. Gleichzeitig sind wohl kaum gegensätzlichere Bildästhetiken denkbar als die von Lenecke und ATAK. Aber dass diese beiden Zeichner trotzdem an derselben Hochschule gelehrt haben, zeigt die Offenheit des Metiers.
Natürlich haben es pädagogisch interessierte Comics wie „Hamburg 1686“ schwer am Markt, zumal bei lokalem Fokus. Und das ist schade, denn eine dynamische Szene braucht auch handwerklich herausfordernde Projekte, die nicht gleich vom allerinnerlichsten Antrieb der Autoren getrieben sind. Lenecke, Heise und Bellingradt stellen ihr Erzähltalent in den Dienst von Wissensvermittlung, nicht primär der Selbstverwirklichung. Das verlangt nach Bescheidenheit und Dienst ebenso am Medium wie am Publikum. Möge dieses Regionalprodukt Aufmerksamkeit auch jenseits der Elbufer finden.
Dieser Blog-Eintrag ist ein Experiment, das seinen Grund darin hat, dass sich die eigenen Überlegungen zu einem Comic durch dessen Autoren überprüfen lassen können. Es geht um „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“, vor kurzem erschienen bei Carlsen und nur der erste, aber mächtige (fast 400 Seiten!) Teil eines – ja, was denn nun? Man könnte meinen, es handelte sich um eine der zahllosen Comicbiographien, die seit einem Jahrzehnt in Deutschland publiziert werden, aber tatsächlich ist es eine kombinierte Biographieautobiographie, wie man gleich zu Beginn sieht. Denn da bekommen wir es erst einmal nicht dem Komponisten Karlheinz Stockhausen zu tun, sondern mit der Kindheit des (auch prominenten) Szenaristen dieses Comics: Thomas von Steinaecker, eines Zeichens hochdekorierter Romancier, Sachbuchautor, Filmemacher und nun eben auch Comicautor.
In Bilder gesetzt hat dessen Stockhausen-Projekt David von Bassewitz, einer der erfolgreichsten deutschen Illustratoren, der in Sachen Comics bislang nur mit „Vasmers Bruder“ von 2014 auffällig geworden ist. Das war ein Band aus dem Zyklus, den der Szenarist Peer Meter historischen Mördern gewidmet hat, und einen anderen Comic aus dieser Reihe, „Gift“, hatte seinerzeit Barbara Yelin gezeichnet. Die wiederum Thomas von Steinaeckers ersten Comic, „Der Sommer ihres Lebens“, mitgeschrieben und illustriert hat. So fügen sich die Dinge.
Wir sind abgeschweift. Was hat Steinaecker mit Stockhausen zu tun, so dass man von einer Biographieautobiographie sprechen kann? Der damals zwölfjährige Thomas von Steinaecker begeisterte sich im Umbruchjahr 1989 für Stockhausens Musik und lernte ihn wenig später persönlich kennen. Beide wurden trotz fast fünfzig Jahren Alter4sunterschied Freunde, und Steinaecker kann deshalb aus eigener Anschauung vom vielfach verschrienen Avantgarde-Mystiker-Komponisten erzählen. Und er erzählt eben auch von sich: was ihn als Kind an Stockhausen faszinierte. So gibt es neben der Komponistenbiographie auch ein Zeitbild der späten Achtziger in „Stockhausen“. Und im noch ausstehenden zweiten Band werden dann wohl die nächsten zwei Jahrzehnte (Stockhausen starb 2007) in den Fokus geraten, wenn die Lebenswege der beiden Männer sich tatsächlich kreuzen. Denn das tun sie im ersten Band noch nicht.
Alles bisher geschriebene entstand vor dem Abend des 7. Februars 2023, an dem ich einen Abend im Frankfurter Literaturhaus moderieren werde, an dem Steinaecker und Bassewitz ihren Comic vorstellen und aus ihm lesen. Wenn nun kursivierte Passagen in diesem Blog folgen, sind es Erkenntnisse, die aus diesem Abend hervorgegangen sind, der mir ermöglichen wird, den beiden Autoren meine Sicht ihres Comics und meine Fragen an ihn zu präsentieren – und von ihnen Letztere beantwortet und Erstere entweder bestätigt oder revidiert zu bekommen.
Zunächst ein Blick in den Comic: Unter Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam | Carlsen kann man die erste vierzig Seiten lesen. Inhaltlich bietet das sehr viel über Steinaecker, noch wenig über Stockhausen. Trotzdem ist die Parallelführung der beiden Kindheiten deutlich: 1989 und 1938, eben jene fünfzig Jahre Abstand und zwei komplett gegensätzliche Systeme und Familien, doch trotzdem sind beide Knaben Getriebene, und sie leben in ihren eigenen Welten. Bei Steinaecker ist es eine popkulturell bestimmte (die Anspielung an „Asterix“ gleich zu Beginn!), bei Stockhausen durch eine uns heute traditionell erscheinende Kultur (Hausmusik, Comedian Harmonists im Radio) geprägte.
Thomas von Steinaecker besuchte Stockhausen in dessen Haus im bergischen Kürten, und wurde Teil der Corona um den Komponisten – wohl als eine Art Maskottchen, dessen noch kindliche Begeisterung schon einher ging mit großem Eifer, das Werk Stockhausens zu verstehen. Dementsprechend wurde er vom Umkreis des „Meisters“, wie Stockhausen von den Weggefährten heute noch genannt wird, akzeptiert, ja gewissermaßen adoptiert – Steinaecker spricht von einer Rlle als „kleiner Bruder“ der Stockhausen-Söhne Markus und Simon, die damals noch als Musiker eng mit ihrem Vater zusammenarbeiteten. Diese Kontakte rissen auch nie ab; sie verschafften Steinaecker einen Vertrauensvorschuss, als er mit seiner Idee, Stockhausens Biographie als Comic zu erzählen, zu den beiden Verwalterinnen des Nachlasses in Kürten ging, und Bassewitz profitierte vom biographischen Archivmaterial, das dadurch bei der Zeichnerarbeit für Detailansichten und Figurenausgestaltung zur Verfügung stand. Und die Stockhausen-Partituren haben Bassewitz an Seitenarchitekturen von Comics erinnert.
Doch noch viel interessanter ist die von Bassewitz gewählte graphische Form: keine Panelumrahmungen, also offene Form – so offen eben wie die erzählte Handlung aus dem subjektiven Blickwinkel von Steinaeckers. Barbara Yelin hatte das bei „Der Sommer ihres Lebens“ genauso gehalten. Ist das eine Steinaecker’sche Vorgabe an seine Zeichner?
Nein, antwortet er, es sei Zufall gewesen, dass beide di3eselbe Entscheidung getroffen hätten. Yelin habe sehr viel mehr Einfluss auf das Szenario genommen, damit habe er erst einmal als Schriftsteller zurechtkommen müssen. Seitens Bassewitz‘ habe es gar keine Veränderungswünsche geben, und der Zeichner betont seinerseits, dass er sich ganz als Dienstleister am Steinaecker’schen Szenario verstanden habe, das ihn durch die darin enthaltene Selbstironie sofort überzeugt habe.
Dann aber vor allem die Visionen, die Bassewitz ins Bild setzt – Klangerfahrungen vor allem. Der Zeichner ist Jahrgang 1975, aber warum sollte er sich nicht von jenen Zeichnern inspiriert haben lassen, die Mitte der achtziger Jahre mit malerischen Mitteln den amerikanischen Comic umkrempelten: Dave McKean und vor allem Bill Szienkiewcz. Wer jemals des Letzteren Miniserie „Stray Toasters“ gesehen hat, dürfte in „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“ einiges bekannt finden. Und es passt jeweils zu dem assoziativen Erzählen der Geschichten.
Natürlich, sagt Bassewitz hätten ihn Szienkiewicz und McKean mit ihren Arbeiten beeindruckt, aber noch mehr Enki Bilal und Moebius, überhaupt die frankobelgischen Comics. Davon habe es als junger Zeichner gelesen, was er kriegen konnte. Bei den Klangvorstellungen er Stockhausen-Figur im Comic habe er aber auch nach Prinzipien der surrealistischen écriture automatique gezeichnet: Ausgehend von der Objektform der Geräuscherzeugung, etwa einem Flugzeug, seien abstrahierter Formen entstanden, um die Vorstellungen abzubilden.
Was für Licht werfen Steinaeckers Vertrautheit und Bassewitz‘ bildende Interpretation auf ein Mammutunternehmen wie „Licht“, den berühmt-berüchtigten siebenteiligen Opernzyklus von Stockhausen, mit dem er Wagners „Ring“ vom Musiktheaterthron stoßen wollte? Und wie kann man überhaupt Töne in Bilder setzen? Genau diesen Fragen synästhetischer Natur stellte sich auch immer wieder Stockhausen als Musikdramatiker. Ist der Comic also der Versuch einer graphischen Umsetzung des Stockhausen’schen Kompositionsprinzips? Und wenn ja: Dokumentiert er Hybris? Und bei wem? Bei Stockhausen oder bei Steinaecker(Bassewitz?
Steinaecker sieht in Stockhausen ein Gegenbild zu sich selbst, denn das Messianische, Selbstbezogene sei seine eigene Sache gerade nicht. Deshalb sei der Comic auch ein Dienst an Stockhausen und dessen Musik, nicht eine Autobiographie. Er selbst höre immer noch jede Woche Stockhausen, daran habe sich trotz Abschied aus dem Umfeld des Komponisten nichts geändert. Bassewitz wiederum, der sich selbst einen „musikalischen Analphabeten“ nennt, ist während der Arbeit nicht für Stockhausens Kompositionen gewonnen worden, doch der Reiz, durch die Arbeit am Comic etwas über dessen Musik zu erfahren, war groß genug.
In Thomas von Steinaeckers letzten Buch vor dem Stockhausen-Comic, „Ende offen“, erschienen 2021, ist eines der darin enthaltenen essayistischen Kapitel über Torso gebliebene (Groß-)Kunstwerke dem „Klänge“-Zyklus gewidmet, an dem Stockhausen bis zu einem Lebensende gearbeitet hat. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Text kein Hinweis auf Steinaeckers persönliche Bekanntschaft mit dem Komponisten zu finden ist. Hat er sich diesen Clou für den damals schon längst in Arbeit befindlichen Comic aufgespart, oder kann man als Comicszenarist offener von sich selbst sprechen als in einem Sachbuch, weil zwischen Ich und Publikum noch die Interpretation des Erzählten durch den Zeichner David von Bassewitz tritt?
Das bejaht Steinaecker entschieden. Über sich selbst zu schreiben könne er sich nicht vorstellen, aber durch die Brechung in Film oder Comic werde es möglich. Und ohne die eigene Geschichte gebe es ja keine Legitimation für den Stockhausen-Comic. Wobei der, wie Steinaecker, sagt, viel Neues gegenüber der bisherigen biographischen Forschung biete. Aus eigenen Gesprächen mit Stockhausen stammt etwa dessen Erinnerung an den Besuch bei der in einer Heilanstalt einsitzenden Mutter und den damaligen dramatischen Verlauf. Dass Stockhausens Mutter im Euthanasieprogramm der Nazis ermordet worden ist, wisse die Öffentlichkeit erst seit zehn Jahren, also nach dem Tod des Komponisten. Ihm aber habe Stockhausen noch davon erzählt.
Eines jedenfalls ist sicher, auch noch ohne Kenntnis der Fortsetzung: Dieser Comic ist in seiner Ausgestaltung ein Meilenstein. Wieviel man davon Thomas von Steinaecker zusprechen muss und wieviel David von Bassewitz, darüber will ich hier noch nicht spekulieren: das frage ich die beiden heute Abend im Frankfurter Literaturhaus.
Und die Antwort ist eigentlich schon durch die vorherigen Äußerungen gegeben worden: Bassewitz hatte gar nicht die Absicht, über Steinaeckers Szenario hinauszuerzählen. Umso beeindruckender sind seine Bildlösungen geworden, die sämtlich am Computer entstanden sind, nachdem die Arbeit an „Stockhausen“ vor sieben Jahren noch klassisch begonnen worden war. Sieben Jahre – der Zeitraum sprengte die Vorstellungen beider Beteiligter, und dass jetzt ein Band erschienen ist, der am Schluss eine Fortsetzung ankündigt (die ähnlich umfangreich ausfallen wird), ist nur dem Umstand zu verdanken, dass beide den Verlag nicht länger warten lassen wollten. Zum Glück sei die Ausgabe sehr gut aufgenommen worden, von der Kritik, aber auch vom Publikum. Das werde das Erscheinen auch des zweiten Bandes bei Carlsen gewährleisten. Dass der voluminöse „Stockhausen“-Comic so prachtvoll gedruckt und dennoch für „nur“ 44 Euro angeboten werden kann, verdankt sich indes einer Kalkulation, die nicht allein Marktgesetzen gehorcht. Aber die Leidenschaft Thomas von Steinaeckers für Karlheinz Stockhausen hat eben ihren Preis.
Tom Gauld ist der Comictraum des Buchhandels. Einmal wegen seines Erfolgs. Spätestens mit seinem im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenen Bilderbuch “Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin” (Moritz Verlag, übersetzt vom Bilderbuchkollegen Jörg Mühle) hat der schottische Zeichner die Welt erobert: Man kann all den Übersetzungen, die Gauld auf seinem Instagram-Account dokumentiert, kaum noch folgen. Aber mehr noch als die rein kommerzielle Kompetenz ist Gaulds Bücherliebe zu nennen, die sich in seinen Comic-Strips für die britische Tageszeitung “The Guardian” artikuliert. Man nehme nur einige Titel der diversen Sammelausgaben: “The Snooty Booshop”, “Baking with Kafka” oder jüngst “The Revenge of the Librarians”.
Letzteres Buch ist jetzt gerade auf Deutsch erschienen, bei der Edition Moderne, Gaulds deutschem Stammverlag, als “Die Rache der Bücher”. Die Veränderung des Titels ist etwas seltsam, denn auch wenn Bücher bei Gauld durchaus ein Eigenleben als Figuren annehmen können, sind Bibliothekare doch weitaus häufiger anzutreffen. Und noch mehr Aufmerksamkeit widmet der Zeichner den Schriftstellern. Für einen Mittvierziger ist diese Faszination selbst faszinierend, denn man sollte nicht denken, dass eine derart traditionelle Vorliebe beim gegenwärtigen Zeitungspublikum gut ankommen würde. Wobei der “Guardian” zwar politisch links steht, aber ein kulturkonservatives Publikum hat.
Entsprechend liebevoll-bösartig geht Gauld mit dem Literaturbetrieb um. Seine Schriftsteller sind samt und sonders überempfindliche Nervenbündel, deren gute (Schreib-)Absichten von ihren geschäftstüchtigen Verlegern und sonstigen wohlmeinenden Kommentatoren konterkariert werden. Es gibt aber auch genug Strips unter den mehr als 140 nun publizierten Episoden, die auf literarische Meisterwerke anspielen und somit ein geistiges Bündnis zwischen Zeichner und Lesern beschwören, das bei der Lektüre das wohlige Gefühl eigener Belesenheit erzeugt. Mit Gauld macht man Bücherratten glücklich.
Freunde origineller Cartoons genauso. Denn Gauld hat einen unverkennbaren Stil entwickelt, der mit denselben Abstraktionen wie Chris Ware arbeitet und somit den Text gegenüber den Zeichnungen in den Vordergrund schiebt. Die Leseprobe des deutschen Verlags macht es deutlich: https://www.editionmoderne.ch/buch/die-rache-der-buecher/. Einfach das Buch anklicken, und dann bekommt man einen Querschnitt durchs Buchs und dessen Themen. Und wer mit der Graphik hier nicht zurecht kommt, sollte auch seine Finger von Gauld lassen, aber Hand aufs Herz: Kann man es noch besser machen?
Es dürfte mittlerweile klar geworden sein: In diesem Blog werden keine Gauld-Gags nacherzählt. Weil man das gar nicht kann. Die Sprache seiner Cartoons ist dafür viel zu gedrechselt, eben selbst literarisch. Man nehme nur aus leicht erkennbaren persönlichen Gründen dieses eine Beispiel: “Der Pottwal und der Riesenkalmar waren nie gute Freunde gewesen, aber als in der FAZ die ätzende Kritik des Tintenfischs zum zweiten Gedichtband des Wals erschien, wurden die beiden zu Todfeinden.” Das klingt schon gut (Christoph Schuler hat wunderbar übersetzt, wenn man von ein paar wenigen Helvetismen absieht und toleriert, dass der in einer Episode zitierte letzte Satz aus Prousts “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”, der einem schmelzenden Schneemann vorgelesen wird, gar nicht der letzte des Romanzyklus ist, sondern “nur” der des ersten Teils, “In Swanns Welt”) und ist noch besser illustriert, nämlich im Stil eines Holzschnitts aus einem Abenteuerbuch des neunzehnten Jahrhunderts, aber natürlich à la Gauld. Meisterhaft!
Und so könnte man diesen Autor munter weiterpreisen, etwa für seine Variationen auf die Männerfreundschaft zwischen Odysseus und Polyphem oder für die von ihm dokumentierten Bemühungen von Jane Austen, die richtige Besitztümer für den Junggesellen aus dem ersten Satz von “Stolz und Vorurteil” zu finden. Es gibt einen Beckett-Adventskalender, und wir erfahren, was dem “Ulysses” geblüht hätte, wenn Joyce auf seine Verlegerin gehört hätte. “Die Rache der Bücher” ist eine Quelle nie versiegenden Vergnügens an und mit Literatur, und zugleich ist dieses Buch ein Best-of eines der derzeit besten Comic-Strips überhaupt. Dass der “Guardian” bei all seinen jüngeren Bemühungen, die Humorsektion diverser und geistesbarrierefrei zu gestalten, Gaulds bereits seit 2005 laufende brillante Serie ausgespart hat, ehrt ihn und freut uns. Dass man dann auch noch solch schöne Bücher mit dem Material präsentiert bekommt, ist fast zu viel des Glücks. Übrigens noch ein auffälliges Element: Gauld witzelt in seinem neuen Buch nicht über Comics. Vermutlich ist das der Gipfelpunkt der Liebeserklärung.
She’s a real nowhere girl, sitting in her nowhere world, making all her nowhere plans for nobody – die elfjährige Magali weiß nicht, wo es hingehen soll. Jedenfalls nicht in die Schule. Jeden Morgen, wenn der Vater sie hinbringt, muss sie sich vor dem Schulhof übergeben und kehrt mit ihm nach Hause zurück. Irgendwann kommt die Diagnose, die Magalis Eltern, zwei renommierte Kinderpsychologen, nicht selbst haben treffen können (oder wollen): Schulphobie.
Man möchte meinen, dass wäre ein Kinderwunschtraum, um dauerhaften Unterrichtsverzicht zu erzielen, aber diese Phobie gibt es wirklich – wie etwa auch Aktenphobie, die das Arbeiten in Behörden verhindert. Klingt auch nach Wunschtraum, ist für die Erkrankten aber ein ernstes Problem, wenn sie schon in den jeweiligen Institutionen sitzen. Magali ist zwar nicht unglücklich über den nun einsetzenden Heimunterreicht über eine französische Fernschule, aber sie hat mit der einsetzenden Pubertät auch sonst einiges zu tun. Das einzige, was ihr an Neuem begegnet und sie begeistert, sind die Beatles.
Nun könnte man meinen, „Nowhere Girl“, der autobiographische Comic der französischen Zeichnerin Magali le Huche, spielte in den sechziger Jahren. Weit gefehlt: Wir sind zu Beginn der Neunziger. Aber warum sollte man als Teenager nicht derselben Faszination verfallen wie die Generationsgenossen drei Jahrzehnte zuvor? Wobei ein besonders komisches Potential des Comics im Unverständnis der Klassenkameradinnen von Magali liegt, die in den Beatles die Musik ihrer Eltern sehen – wenn sie sie überhaupt noch kennen. Magali erscheint wie aus der Zeit gefallen, aber tatsächlich eröffnen ihr die Lieder der Beatles auch einen anderen Raum: einen Freiraum, in dem sie träumen kann und die Welt erkundet.
Magali la Huche wurde 1979 in Paris geboren und ist eigentlich Bilderbuchillustratorin – bei S. Fischer erschienen bereits mehrere Kinderbücher ihrer „Paco“-Serie in deutscher Übersetzung. Doch erst mit dem jetzt von Reprodukt verlegten Comicdebüt sieht man, was für eine große Erzählerin da zugange ist. Erstmal sieht man es ganz buchstäblich: auf Nowhere Girl – Reprodukt, der Leseprobe des Verlags. Wer bis zur letzten der dort angebotenen Seiten durchblättert, der wird sehen, wie einfallsreich La Huche nicht nur die Seitenarchitekturen, sondern auch den Farbeinsatz gestaltet. Sobald die Beatles ins Spiel kommen, geht es bunt zu. Aber auch der Anlauf bis dahin ist toll. Auch wenn man die Anleihen bei Riad Sattoufs „Araber von morgen“ oder Catherine Meurisses „Leichtigkeit“ deutlich sieht. Aber wer sich an den Besten orientiert, macht zumindest das schon einmal richtig.
Die erste Hälfte des etwas mehr als hundertseitigen Comics gehört denn auch selbst zum Besten, was ich in den letzten Monaten gelesen habe. Danach wird es etwas absehbar, sind auch kaum mehr die graphischen Exzesse zu finden, die synästhetischem Musikempfinden entsprungen schienen. Doch ich jammere auf hohem Niveau, denn langweilig wird es nie. Und der nächste Comic von Magali la Huche wartet schon: „Grüna“ soll im Mai bei Reprodukt erscheinen und sieht sensationell gut aus. Als Auftakt einer Serie namens „Hexenkram“, die Jugendromane von Marie Desplechin zur Vorlage hat, die jeweils Farben im Titel tragen. Da werden wir mall sehen, was La Huche bei Adaptionen drauf hat.
Und wenn wir ehrlich sind: So ganz abgeschlossen wirkt „Nowhere Girl“ nicht. Zwar geht es wieder in die Schule zurück, aber die Liebe zu den Beatles ist ungebrochen. Außerdem ist Magali am Ende erst dreizehn. Im Leben ihrer Zeichnerin (du damit auch in ihrem) ist sicher noch viel mehr passiert. Ich will’s lesen.
Ari Folman ist ein berühmter Mann. Zur Erinnerung: „Waltz with Bashir“ aus dem Jahr 2008. Das war sein Film, von ihm geschrieben (auf der Grundlage eigener Erfahrungen als israelischer Soldat im Libanon der frühen achtziger Jahre), selbst gedreht, eine Kinosensation auf der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation – und das als Zeichentrickfilm. Einen Comic gab es dazu auch noch, ein Jahr danach publiziert und gezeichnet von David Polonsky in enger Anlehnung an die Ästhetik des Films.
Als Comic war „Waltz with Bashir“ indes wenig reizvoll, eben weil es darin keine ästhetische Eigenständigkeit gab. Aber never change a winning team, und so musste Polonsky sich eben anpassen. Da auch der Comic ein relativ großes Publikum fand, galt dann acht Jahre später die Maxime „Never change a winning team“ auch für ihn: Als Folman seinen nächsten Comic geschrieben hatte, wurde wieder Polonsky engagiert. Es war ein denkbar prominenter Stoff: „Das Tagebuch der Anne Frank“.
Ein berühmteres Buch als diese Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens in ihre Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht während der deutschen Besatzungszeit der Niederlande dürfte es kaum geben. Ein zugleich traurigeres und trostreicheres auch nicht, denn Anne Frank wurde bekanntlich noch kurz vor Kriegsende in Bergen-Belsen ermordet, und doch sind ihre Selbstbefragungen und Beobachtungen von einer sowohl poetischen als auch lebenspraktischen Reife, dass man nur staunen kann. Das Buch ist verfilmt worden (erstmals schon 1947, womit der Erfolgszug eigentlich erst begann), war Gegenstand unzähliger Untersuchungen und ist bis heute Schullektüre rund um die Welt.
Ein Comic hatte natürlich auch nicht gefehlt, als Folman und Polonsky 2017 ihre Adaption veröffentlichten, aber die Prominenz von Folman machte seine Version zu etwas weit Beachtetem. Zudem es ihm selbst ein Bedürfnis war, Anne Franks Werk an so viele Leser wie möglich zu bringen. Und der leicht kantige Stil von Polonskys Bildern führte ein neues Element in die Anne-Frank-Rezeption ein: Hier war eine junge Frau denkend und schreibend zugange. Der Comic wirkte frei, obwohl er ja eine Adaption war, aber diesmal gab es ja auch keinen Trickfilm als Vorbild.
Der kommt vielmehr jetzt als Nachspiel. Ende Februar wird „Wo ist Anne Frank?“ von Ari Folman in die deutschen Kinos kommen, auf Festivals lief er schon vor einigen Monaten. Du wer schon wissen will, was ihn im Film erwartet, kann den Comic „Wo ist Anne Frank?“ lesen, der bei S. Fischer, dem deutschen Anne-Frank-Verlag, gerade erschienen ist: Auf 150 Seiten erzählt Folman auf eine erstaunliche Weise, nämlich dadurch, dass er nicht Anne Frank selbst zur Hauptfigur macht, sondern deren imaginäre Freundin Kitty.
Die ist eine Figur des Tagebuchs, und Folman hat in ihr den Schlüssel für eine Filmhandlung gefunden, die sich von früheren Anne-Frank-Verfilmungen unterscheidet. Sein Film und auch sein Comic spielen in unserer Gegenwart. Die Projektionsfigur Kitty, in vielem ein Gegensatz zu Anne, erwacht im Anne-Frank-Museum in der Prinsengracht und weiß nicht, was seit 1944, als das versteck von den Nazis ausgehoben wurde, passiert ist. Für die Besucher ist das Mädchen unsichtbar, aber außerhalb des Gebäudes wird sie zur realen Person, wenn sie das authentische Tagebuch der Ane Frank mit sich führt. Deshalb gilt sie aber auch bald als Diebin, und das ganze Land ist hinter Kitty her.
Folman hat eine Parabel geschrieben: auf die Berühmtheit von Anne Frank, die sich aber nicht darin artikuliert, dass heute ihre Überzeugungen hochgehalten werden, sondern nur in der Benennung von Schulen, Brücken, Museen. Die humanistischen Werte, für die Anne Frank steht, werden dagegen mit Füßen getreten in einer Gesellschaft, die Flüchtlingen die Tür weist. Alsbald sehen wir Kitty auf einen Kreuzzug für Anne Franks Ideale und gegen die Gleichgültigkeit. Dabei steht ihr mit dem Aktivisten Peter ein attraktiver junger Mann zur Seite, der natürlich nicht zufällig denselben Namen trägt wie jener jüdische Schicksalsgenosse, in den sich Anne Frank im Versteck verliebt hatte.
Polonsky ist übrigen nicht mehr dabei, aber die israelische Zeichnerin Lena Guberman hat ihren Stil an seinem geschult: „Wo ist Anne Frank?“ sieht aus wie eine Fortsetzung der „Tagebuch“-Adaption (hier zu sehen: https://www.fischerverlage.de/buch/ari-folman-lena-guberman-wo-ist-anne-frank-eine-graphic-novel-9783100000798, dazu der Vergleich mit dem früheren Band: https://www.fischerverlage.de/buch/anne-frank-david-polonsky-das-tagebuch-der-anne-frank-9783103972535). Guberman war aber auch mitverantwortlich für das Produktionsdesign der verfilmung des Stoffs durch Folman, also handelt es sich bei dem Comic um mehr als eine Buch zum kommenden Film: Er entstand parallel zu den Animationsarbeiten. Leider hat das nicht bewirkt, dass er sich Freiheiten gegenüber diesen herausnahm – also wieder das alte „Waltz with Bashir“-Problem. Manche Bildsequenzen mögen auf der Leinwand toll aussehen, auf einer Comicbuchseite wirken sie einfach nur forciert und bisweilen statuarisch. Just die Lebendigkeit, die Kitty erlangt, fehlt diesem Comic. Folman hat nichts aus früheren Fehlern gelernt, aber er ist ja auch vor allem Filmerzähler. Das reicht aber nicht für einen guten Comic.
Bis ich darauf gekommen bin, dass der mir bislang unbekannte Comicverlag Crocu seinen Namen der jugendlich klingenden Abkürzung von Cross Cult verdankt, verging einige Zeit, während derer ich grübelte, wer wohl eine solche Publikation riskieren würde. Aber klar: Zu Cross Cult passt’s, dort wurde immer wieder mal neben allem Serien- und Mainstreamzeug auch Ungewöhnliches aus Amerika veröffentlicht. Wie nun „Sheets“ von Brenna Thummler.
Aber ist das so jugendgerichtet, dass es ins neue Crocu-Label passt? Gut, die Protagonistin ist ein Teenager, Marjorie Glatt, die neben der Schule auch noch die Führung der familieneigenen Reinigung schultern muss, weil der Vater sich nach dem frühen Tod der Mutter in die Abgeschiedenheit seines Zimmers zurückgezogen hat und die Tochter und den kleinen Sohn sich selbst überlässt. Das mag ein Teenager-Publikum ansprechen, aber Thummler, über deren Leben man nur weiß, dass sie wie ihre Hauptfigur im kleinstädtischen Pennsylvania aufwuchs, lässt keinen Zweifel daran, dass Majorie mit der Aufgabe, nicht nur das eigene Leben, sondern die ganze Familie zusammenzuhalten, restlos überfordert ist. Und doch versucht sie es.
„Sheets“ heißt der Band, weil Bettlaken darin eine wichtige Rolle spielen. Bei einer Reinigung wenig überraschend. Ungewöhnlicher ist schon, dass sich der 230 Seiten starke Comic zu einer Geistergeschichte auswächst – und „Sheets“ steht da plötzlich auch für das typische Bettlakengespenst („Laken“ klang den Machern um den bewährten Übersetzer Matthias Wieland wohl zu läppisch, also kam das Wort in den unsäglichen deutschen Untertitel „Am Ende bleibt uns nur ein Bettlaken“). Das gibt es wirklich im Pennsylvania dieses Comics, denn Wendell ist kürzlich ertrunken, hat ab er mit der Welt der Lebenden noch nicht ab geschlossen. Und wie man erfahren wird, auch etwas mit Majorie gemeinsam. Aber damit genug verraten.
Teenage-Horror à la „Nightmare on Elm Street“ ist Thummlers Sache nicht, obwohl der böse Nachbar Saubertuck (die meisten Figuren tragen deutsch klingende Namen) mit mephistophelischen Zügen ausgestattet ist – körperlich, und charakterlich sowieso. Er will das Haus der Glatts übernehmen, um dort ein Yogazentrum zu errichten, und kein Mittel ist ihm dazu schäbig genug. Lebte Saubertuck in Entenhausen, hieße er Glatznick oder Köberle. Donaldisten wissen, was ich meine.
Thummlers Stärke liegt in der Stimmungsmalerei, die knapp zehn Seiten der Crocu-Leseprobe https://www.cross-cult.de/titel/sheets-am-ende-bleibt-uns-nur-ein-bettlaken.html?titel_medium=9 geben das schön wieder: Ihre Kleinstadt ist erkennbar heruntergekommen, die Bewohner sind wenig sozial eingestellt, und die Schule hält für Majorie auch fast nur Enttäuschungen parat (wenn es da nicht den hübsche Colton gäbe). Die Zeichnungen selbst sind semirealistisch und vor allem auf Attribute bedacht, die eine junge weibliche Leserschaft reizen kann: Haare und Frisuren in den wildesten Formen, zarte Liebesbande, Schikanen durch bösartige Mädchencliquen und halbstarke Jungs. Ach ja, rosa und hellblau allüberall, nur nicht in den in der Geisterwelt spielenden Szenen, da ist alles fahl grüngrau. Kein Wunder, dass Wendell lieber in ein Kaff zurückwill, als dort im Aussprachezirkel der frisch Verstorbenen mit der neuen Situation umzugehen zu lernen.
Man sieht an solchen Abstrusitäten, dass Thummler auch Sinn für Ironie, manchmal gar Gesellschaftskritik hat. Wobei sie am Ende doch vor allem auf die Tränendrüse drückt, und irgendwo sieht man ihre „Sheets“ schon in bewegten Leinwandbildern, denn mit ein paar Spezialeffekten käme diese Gespenstergeschichte sicher gut. Als Comic steckt so zu sehr in der Konvention, auch was die Bildsprache begrifft. Aber damit holt die Autorin ein Publikum ab, dass n och nicht über große Leseerfahrungen verfügt und eher von „Caspar, the Friendly Ghost“ geprägt ist als von Edgar Allan Poe. Letzteres muss man ja auch nicht sein, aber wenn Thummlers Poesie doch ein bisschen was von Poe hätte, wäre die Geschichte auch für Ältere wie mich geeignet. So ist sie bei Crocu doch genau richtig plaziert.
Zack, da habe ich ihn in der Hand: Band 3 der „Abenteuer des Pascal Siebenspiel““. Die werden Ihnen nichts sagen, wenn Sie nicht in der Schweiz leben. Denn dort erscheint die Serie, allerdings als print on demand, was jede Form überregionaler Wahrnehmung schwierig macht, denn da erscheint ja so viel … Jedoch gar nicht mal so viele Comics, also ist es nur berechtigt, sich einmal einen stellvertretend für alle anzusehen.
„Zack“ – das sollte die Plötzlichkeit illustrieren, mit der Marc Véron alias Norf, der Szenarist von „Pascal Siebenstein“, mir auf einer Tagung der Schweizer comicschaffenden den Band in die Hand gedrückt hatte. Wer kann dazu schon Nein sagen? Zumal neben Véron der Zeichner und Erfinder der Serie steht: Pidi Zumstein, der nur mit seinem Vornamen signiert. Pidi & Norf sind ein Team seit Band 2, der 2020, noch im selben Jahr wie Band 1, herauskam. Corona-Jahr also. War das der Auslöser, aus dem Solo- ein Gemeinschaftsprojekt zu machen? So viel Zeit hatte ich auf der Tagung nicht, um danach zu fragen. Und der vor einem Jahr erschienene dritte Band wollte ja auch erst einmal gelesen sein. Wenn schon der eigentlich für diesen September angekündigte vierte nicht fertig geworden ist.
Man sieht trotzdem: Das Tempo ist hoch, das Pidi & Norf vorlegen. Und die im klassischen Albenformat gehaltene Serie geht bei der Seitenzahl über die üblichen Umfänge hinaus: sechzig Seiten sind in Band 3 geboten. Was aber passiert in dieser Fortsetzungsgeschichte? Bevor wir dazu kommen, sehen wir uns an, wie das aussieht, was da passiert. Denn das sagt schon einiges aus. Man gehe auf https://siebenspiel.ch/.
Beim Anwählen sieht man leider keine Comicseiten, sondern nur Cover und Rückseiten. Letztere aber bieten das Figurenensemble. Es ist wild, auch in der Vielzahl der auf die Akteure verwendeten Stile. Nehmen wir die Hauptperson Pascal Siebenspiel, einen nur aus Kopf und kurzen Gliedmaßen bestehenden Winzling, der überdies auch im mittlerweile ganz farbigen Ambiente von Band 3 immer noch schwarzweiß gezeichnet wird. Dieser Siebenspiel entstammt einem französischen Roman, wie man im ersten Band erzählt bekommt. Er verließ die papierene Welt und wurde mit den weitaus größeren Absurditäten der realen konfrontiert. Man kennt das aus Woody Allens „The Purple Rose of Cairo“, nur war es da eine Filmfigur, die aus dem Rahmen fiel. Und sie traf nicht auf eine satirisch übersteigerte Umgebung.
Die aber haben Pidi & Norf geschaffen. In der Realität, die Siebenspiel aufnimmt, treiben in Band 3 die Schurken Goggel, Fatzke & Zwitsch ihr mediales Unwesen. Ersterer steht für Google, Letzterer für Twitter, Mittlerer aber nicht für die F.A.Z., sondern für Facebook. Da sieht man schon: Pascal Siebenspiels Abenteuer sind gesellschaftskritisch.
Und abgedreht. Denn Norf packt ein popkulturelles Verweissystem hinein, das keine Rücksicht auf Verluste nimmt. Entsprechend zeichnet Pidi, als wollte er jede Stilrichtung der Comicgeschichte (und Animation gleich mit) zum Handlungsbestandteil machen. Das ist irre anstrengend, weil man hinter jedem Detail eine Anspielung suchen muss. Und gleichzeitig sind Pidi & Norf nicht gerade Klassizisten des Metiers, nehmen also keine Rücksicht auf Seh- oder Erzählgewohnheiten. Man könnte die „Abenteuer des Pascal Siebenstein“ als irren Trip beschrieben. Wie aus den siebziger Jahren entsprungen. In denen sind beide Autoren übrigens aufgewachsen. Und so fühlt man sich zurückversetzt in die Comics von Alfred von Meysenburg. Obwohl alles in der Gegenwart spielt und diese durch den Kakao zieht.
Das Geschehen von Band 3 nachzuerzählen, hätte wenig Sinn. Es geht drunter und drüber. Im Mittelpunkt aber immer die Liebesgeschichte von Siebenspiel mit der mangatypisch gezeichneten Kyoko, die ständig auf den schönsten Kuss der Geschichte hinausläuft. Nun liegt Schönheit im Auge des Betrachters, und ich habe schön schönere Küsse gesehen. Auch schon bessere Comics gelesen. Aber noch nie einen liebvoll-chaotischeren, der zudem mit starken politischen Meinungen daherkommt. Wer einmal eine Geisterbahnfahrt erleben will beim Lesen eines Comics, bei der hinter jeder Ecke eine Überraschung lauert, der ist hier richtig. Wer nach Logik oder Gefälligkeit fragt, der ist hier falsch. Sage keiner, ich hätte nicht gewarnt. Zack!
Kann man das Jahr schöner beginnen als mit einem Hinweis auf Michel Rabagliati? Den kennt hierzulande kaum jemand, dabei ist er einer der stilsichersten und vor allem persönlichsten Comic-Autoren der ganzen Welt. Er ist Kanadier, geboren 1961 in Montréal, und dass ich diesen Stadtnamen hier mit Accent aigu schreibe, ist zwingend, weil Rabagliati zum französischsprachigen Teil der dortigen Bevölkerung gehört. Seit 1999 veröffentlicht er beim Verlag Éditions de la Pastèque Comics mit Geschichten aus dem Leben eines Protagonisten namens Paul Rifiorati, in dem man leicht das Alter Ego des Zeichners erkennen kann (nicht physiognomisch, aber biographisch). Und in all den Jahren hatte es nur eines der „Paul“-Alben in einen deutschen Verlag geschafft: „Pauls Ferienjob“ (im Original „Paul a un travail d’été“ von 2002), das vor fünfzehn Jahren bei der Wuppertaler Edition 52 erschien.
Dieser Verlag ist ein Trüffelschwein, und das nirgendwo so sehr wie in der kanadischen Comicszene. Denn neben Rabagliati ist im Programm auch Seth vertreten, dessen englischsprachiges Äquivalent, was Comic-Weltrang aus Kanada angeht. Beide Zeichner vereint ein melancholischer Blick auf die Moderne, der vor allem durch grenzenlose Bewunderung für Cartoonisten des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts geprägt ist. Seth zeichnet wie Peter Arno, Rabagliati wie André Franquin (hier zu sehen: http://michelrabagliati.com/Bienvenue.html). Doch während Seth fast mit seinem Gesamtwerk in der Edition 52 zu haben ist, war dort von bislang zehn „Paul“-Bänden eben nur der eine übersetzt worden. Bis jetzt.
Denn jetzt ist der jüngste, „Paul zu Hause“, im französischsprachigen Original 2020 erschienen, herausgekommen. Der beste (und das will einiges heißen). Warum ist das so? Weil Rabagliati Mitte des vergangenen Jahrzehnts eigentlich Schluss mit „Paul“ hatte machen wollen. Dass er sich dann doch zur Wiederaufnahme entschied, hatte traurige Gründe: Der Tod seiner Mutter im Jahr 2012 und eine darauf folgende Midlife-Crisis, die auch den Entschluss zum Ende von „Paul“ motiviert hatte, ließen den Zeichner als Erlebnisse nicht los, und nur in der Figur von Paul glaubte er sie bewältigen zu können. Darum dreht sich „Paul zu Hause“.
Aber es ist kein deprimierender, sondern ein tröstlicher Comic. Und ein wunderschöner. Deshalb hier gleich zwei Leseproben: die der Edition 52 (https://www.edition52.com/wp-content/uploads/2022/06/Paul_Leseprobe.pdf) und eine zum kanadischen Original: https://www.lapasteque.com/paul-a-la-maison. Vielleicht ist das auch gar nicht schlecht, denn leider wird die Eleganz des klassischen Strichs von Rabagliati in der deutschen Fassung durchs etwas zu grobe Lettering gemindert, und da Paul (wie sein Erfinder) ein fanatischer Typographieliebhaber und -kenner ist, der sich ständig über diesbezügliche Beobachtungen auslässt, tut es besonders weh, wenn einige Schilder im Straßenbild für die deutsche Fassung eher grob, vor allem aber typographisch keineswegs originalgetreu neu gestaltet worden sind. Und ein paar Sprechblasen sind versehentlich ganz im französischen Original stehengeblieben – keine große Sache, weil es jeweils textarme Blasen sind, aber trotzdem schade.
Man möchte versinken in diesen Schwarzweißbildern, die mit einer unauffälligen Akribie das Montréal des Jahres 2012 auferstehen lassen. Allein die paar Seiten, die auf dem jährlichen Salon du livre (Buchmesse) der Stadt spielen und die darauffolgende Szene in der Bar des Hotels Bonaventure mit ihrem Calder-Mobile an der Decke – das übertrifft in der Eleganz sogar Franquin.
Und wie klug und anspielungsreich ist die Geschichte gebaut! Allein die überraschenden Auflösungen der Klischees über Pauls Nachbarn. Oder der kleine Hund namens Keks, der so selbstverständlich wie Hergés Struppi seine Kommentare zu Herrchens Verhalten abgibt, ohne dass das aber für die Handlung irgendeine Konsequenz hätte. Und wie etwa der Sänger Léo Ferré einmal erwähnt wird, dessen Chanson „C‘est le printemps“ dann von Rabagliati dem Abschlussbild unterlegt wird – das auch das letzte in einer Sequenz von kleinen Einzelpaneln ist, die jeweils eine ganze Seite bekommen und neue Hoffnung ins Leben von Paul bringen. Seit der „Monsieur Jean“ von Dupuy & Berberian habe ich keine so lebensnahe Serie mehr gelesen. Keine, die so viel über ihre Handlungszeit erzählt, obwohl sie „nur“ das Leben eines einfachen Bürgers in den Blick nimmt. Aber darin steckt ja mehr als genug Drama. Und Humor.
Ja, besser kann man das neue Jahr als Comicleser nicht beginnen als mit diesen zweihundert bewegenden und virtuosen Seiten. Herzlich willkommen zurück, Michel Rabagliati. In der Welt von Paul und in Deutschland. Und Glückwunsch dem Kleinverlag zu seinem Mut. Hoffentlich auch für weitere Bände.
Sardine heißt auf Deutsch Alldine. Warum? Weil Alldine nach Weltall klingt, und da spielt die vor mehr als zwei Jahrzehnten von niemand Geringeren als Joan Sfar und Emmanuel Guibert begründete französische Kindercomicserie „Sardine de l’espace“. Sfar, der damalige Zeichner, ist schon längst nicht mehr dabei, aber die heutige Autoren-Besetzung ist kaum weniger prominent: Emmanuel Guibert schreibt immer noch Szenarien für die Reihe, und Mathieu Sapin zeichnet (bisweilen, gerade in den jüngeren Bänden, macht Sapin auch beides).
So, das war jetzt viel Information auf einmal, ziemlich insidermäßig, also nun noch einmal etwas langsamer. Der erste Band von „Sardine de l’espace“ erschien 2000, und Guibert und Sfar hatten schon bei einem Erwachsenencomic zusammengearbeitet, namentlich bei „La Fille du professeur“ 1997, wobei da die Rollenverteilung umgekehrt war. Und so sollte es beim 2001 gestarteten dreiteiligen Zyklus „Les Olives noires“ wieder sein. Beides waren Meilensteine der jüngeren französischen Comicgeschichte, und dazwischen lag „Sardine“. Die etwas darstellte, was es bis dahin in Frankreich (oder sonst irgendwo) kaum gab: einen anarchischen Kindercomic.
So sieht der aus: https://www.schaltzeitverlag.de/kinderb%C3%BCcher/alldine/#cc-m-product-11808751094. Hier natürlich die deutsche Version von Schaltzeit (in der Übersetzung Verlegers Andreas Illmann persönlich), die 22 Jahre auf sich warten ließ, aber besser spät als nie. Heute sind anarchische Kindercomics weltweit erfolgreich, aber die Ursprungsserie fehlte im Portfolio deutscher Verlage. In dem längst Guiberts wunderbare weitere Kinderserie „Ariol“ (gezeichnet von Marc Boutavant) gelandet war. Oder ach „Kleiner Strubbel“ von Pierre Bailly. Beides sind weitere Kindercomicperlen aus Frankreich, die jeweils Epoche machten, aber eben etwas später verglichen mit „Sardine“.
Von dieser Serie gibt es mittlerweile in Frankreich sage und schreibe 23 Bände, also kam jedes Jahr ein neuer, die ersten neun von Sfar und Guibert, dann wurde mit der Zeichner-Umbesetzung neu gezählt, und deshalb steht die Reihe jetzt bei Nummer 14. In jedem der taschenbuchkleinen Alben finden sich jeweils fünf Episoden à zehn Seiten. In den beiden ersten deutschen Bänden sind dagegen jeweils gleich zwölf Geschichten abgedruckt, auf 128 Seiten. Und das für einen Preis von vierzehn Euro pro Ausgabe, während die französischen nicht einmal halb so dicken Bände aktuell 11,50 Euro kosten. Hierzulande bekommt man also mehr als die doppelte Menge Handlung für unwesentlich mehr Geld. Ist das ein gutes Zeichen für den deutschen Comicmarkt? Jedenfalls ist es ein Schnäppchen.
Nun eine Warnung an alle Helikoptereltern: Bei „Sardine“ oder eben „Alldine“ besteht Suchtgefahr für die Kinder, denn darin findet sich alles, was Erwachsene nicht so recht mögen: Albernheit, Pathos, Piraten (Alldine ist Teil einer interstellaren Seeräubertruppe), Schwarzweißmalerei, Chaos, superdumme Superschurken, Fäkalhumor. Aber das haben eben Erwachsene geschrieben und gezeichnet, kluge überdies, und somit steckt auch noch eine ganze Masse Witz drin, den Kinder lieben, aber nicht notwendig schon verstehen müssen. Etwa in der Auftaktgeschichte „Ende als Anfang“ (aus dem französischen Band 13). A wird mit den Voraussetzungen einer Serienerzählung gespielt, und es ist schon frech, dass Illmann just diese Episode an den Beginn der eigenen „Alldine“. Publikationen setzt, denn eigentlich kann doch noch gar keiner die Gesetze einer Serie kenne, die er nie zuvor gelesen hat. Klappe t aber dennoch. Wie überhaupt die meisten metafiktionalen und transgressiven Späße von Guibert. Aber jetzt genug mit den Fachtermini aus dem Seminar für Literaturkritik.
Die von Mathieu allein geschriebenen Geschichten, von denen sich vor allem im deutschen Band 2 einige finden, sind nicht ganz so geglückt. Da hätte man bei der Riesenauswahl, die es gab, stärkere Geschichten gefunden. Aber das heißt ja auch, dass diese kleinen Wunderwerke noch kommen können – wenn die Comics so erfolgreich sind, wie sie es verdienen. Wobei mit Weltraum und Piraten und einem kleinen Mädchen als großer Heldin doch gleich drei Erfolgsgaranten kombiniert werden. Also auf in unendliche Weiten mit Sardine, pardon: Alldine. Energie! To infinity and beyond! Oder was man da oben sonst noch alles so sagt. Und Helikoptereltern kommen ja eh nicht bis ins Weltall. Wir aber. Ein gutes neues Jahr allen Lesern dieses Blogs!
Vor ein paar Tagen wurde der Siegertitel des Comicbuchpreises der Berthold-Leibinger-Stiftung bekanntgegeben: „Ahmadjan und der Wiedehopf“ von Maren Amini und ihrem Vater Ahmadjan Amini. Eine Überraschung? Für mich als Mitglied der Jury allemal. Nicht, weil der Comic nicht gut wäre – im Gegenteil. Sondern weil alle Einsendungen (diesmal waren es mehr als 130) anonym zur Begutachtung vorgelegt werden; es handelt sich bei dem Preis ja um einen, der einem noch im Entstehen befindlichen Werk gilt. Und als dann nach der Entscheidung für „Ahmadjan und der Wiedehopf“ der Name Maren Amini fiel, fiel ich aus allen Wolken. Denn diese Zeichnerin kannte ich.
Nicht persönlich, aber durch ihre Arbeit als Cartoonistin. Man kann mir Fug und Recht sagen, dass es niemanden in Deutschland gibt, der größere Begeisterung für Sempé in seinen Figuren artikuliert – dafür genügt schon ein Blick auf ihre Website http://www.maren-amini.de/. Da Maren Amini zusammen mit der Comiczeichnerin Line Hoven in Hamburg einen kleinen Laden betreibt, in dem ich vergangenes Frühjahr vorbeigeschaut hatte, waren mir die Drucke der Cartoonistin vertraut, aber von ihrem Comicprojekt wusste ich nichts. Und auch wenn ich im Nachhinein klüger bin und sehe, was im ausgezeichneten Comic alles an eindeutigen Spuren zu sehen gewesen wäre, habe ich sie eben doch nicht bemerkt.
Und ich hätte für Aminis graphische Handschrift doppelt sensibilisiert sein müssen, denn ich kenne sie noch aus einem weiteren Kontext: dem Hamburger Zeichnerinnenkollektiv „Spring“, dessen jährliche Publikationen mir seit bald zwei Jahrzehnten ein steter Quell der Begeisterung sind. In der jüngsten Nummer, „Spring 19“ zum Thema Scheitern, ist Maren Amini selbstverständlich auch vertreten: mit einer nur vierseitigen, aber sehr originellen Geschichte namens „Das Kunstwerk“. Okay, eigentlich nicht einmal vierseitig, denn die erste Seite besteht nur aus dem Titel und der Abbildung eines leeren Blattes, dessen unterer linker Ecke sich eine zitternde stiftbewehrte Hand nähert, und die letzte Seite zeigt ein hyperrealistisch gezeichnetes zerknülltes Blatt Papier. Dazwischen spielt sich auf einer Doppelseite mit acht Panels die eigentliche Handlung ab: Eine Zeichnerin sitzt am Arbeitstisch, spricht sich selbst Mut zu, preist die Qualität ihres Strichs, und im letzten Bild kommt eine Kollegin und fragt: „Hä? Was soll das denn sein?“ – so erklärt sich das zerknüllte Blatt auf der nächsten Seite.
Klingt simpel, ist es auch, aber wunderbar gezeichnet, denn die Akteure der Doppelseite sind von einer leichten Einfachheit, wie sie in Deutschland kaum jemand beherrscht. Und in Frankreich das Markenzeichen eben von Sempé war, dem großen Idol von Amini. Wobei sie hier Figuren geschaffen hat, die mit ihren Nasen und Haaren eher an Nicolas Mahler denken lassen. Aber allein schon die abstrakte Linienform des Zeichentischs, an dem die Protagonistin sitzt, ist ein kleines Virtuosenstück, und dass Amini noch viel mehr Stile beherrscht als die der großen Meister der Leichtigkeit, führt sie mit dem verblüffend veristischen Papierknäuel vor.
Leider gibt es auf der Spring-Homepage https://www.mairisch.de/programm/spring-19-scheitern/ keine Seite aus Aminis Kurzcomic zu sehen (dafür allerdings welche von Moki, Birgit Weyhe, Stephanie Wunderlich, Carolin Löbbert, Katarina Kuhlenkampf, Nina Pagalies und Romy Blümel), und „Ahmadjan und der Wiedehopf“ ist ja noch nicht fertig, also gibt es davon auch nichts zu zeigen. Aber dass diese Zeichnerin, die schon als Illustratorin bei einigen namhaften Blättern reüssierte (etwa der „Washington Post“ oder dem „Spiegel“) nun auch als Comicautorin den Durchbruch schaffen wird, ist gewiss. Ahmadjan Amini ist übrigens ihr in Afghanistan geborener Zeichner, und seine Geschichte wird im gemeinsam gestalteten Comic erzählt. Wobei der Löwenanteil von der Tochter stammen wird, während Ahmadjan Amini neben den Erzählungen seines Lebensweges einige Gemälde beisteuern wird, denn auch er ist ein Künstler. Es kann ja nicht alles von Sempé kommen …
Ich wusste nichts über Stéphanie Weppelmann, als ich im Leipziger Buchladen meines Vertrauens ihr Piccoloheft „Lovers!“ auf dem Comictisch liegen sah. „Piccolo“ – das muss man heute mutmaßlich erläutern – war ein in den fünfziger Jahren in Europa populäres Comicformat, das pro Seite den Abdruck einer Bildreihe erlaubte, also praktisch Comic-Strips in Heftgestalt: querformatig, meist nicht mehr als 24 Seiten, billiges Papier; für deutsche Nostalgiker lasse ich hier nur mal den Namen Hansrudi Waescher fallen – so konnte man preiswerten Lesestoff liefern. Als es den Menschen dann finanziell besser ging, starben die Piccolohefte aus. Heute ist alles kunterbunt und großformatig, wenn die Comiczeichner es denn so wollen.
Bunt ist auch „Lovers!“, aber eben auch im längst ungewöhnlichen Piccoloformat. 24 Seiten sind es, allerdings nicht eben billig für die etwa fünf Minuten Lektürezeit: fünf Euro. Aber die sind wohlangelegt, denn Stéphanie Weppelmann zeichnet im schönsten Bilderbuchstil und erzählt mit Lust am Nationalklischee über Liebespaare aus Frankreich (ihr Heimatland), Deutschland (ihr Gastland), Japan, Italien, Mexiko und den Hohen Norden (hier keine genaue Länderbestimmung, aber die Überschrift lautet „Inuit Lovers“). Immer geht es um Herz und Magen, und keine der einzelnen Episoden hat mehr als sechs Bilder (diesen Rekord hält das französische Liebespaar). Angesichts von rund zweihundert Nationen auf der Welt und noch viel mehr Volksgruppen samt entsprechenden Klischees könnte aus „Lovers!“ ein vielversprechender Comic-Strip werden. Und auf der Titelseite steht ja auch schon „Band 1“.
Bei Band 2 wäre ich wieder mit dabei, aber noch ist der erste ja erst ein paar Monate alt, und außerhalb Leipzigs habe ich ihn noch nicht gesehen. Dafür die Website von Stéphanie Weppelmann: https://www.graphiste.website/illustration. Auf der finden sich einige Zeichnungen aus ihrem Comic, man erkennt sie sofort an den animalischen Protagonisten: Schweine, Maulwürfe, Katze, Eisbären und so weiter. Und am quadratischen Format der Panels, denn „Lovers!“ setzt nicht auf abwechslungsreiche Seitenarchitektur (im Piccoloheft auch schlecht möglich), sondern auf das Grundprinzip des repetitiven Comic-Strips, der gerade nicht formal überraschen will. Comic-Strips setzen auf Überraschung durch Witz, und das wird hier eingelöst.
Die knappen Texte zu den Bildern (keine Sprechblasen!) sind auf Englisch, aber das tut dem trockenen Humor gut. Stéphanie Weppelmann ist laut Selbstauskunft im Netz studierte Kunsthistorikerin, Wahlleipzigerin und vielfach in der Vermittlung künstlerischer Fertigkeiten an Kinder engagiert. Ihre ironischen Kurzgeschichten zu internationalen Liebes- und Speiseschwierigkeiten bieten Bilder, die kindgerecht, und Texte, die erwachsenenfähig sind. Nicht durch Schlüpfrigkeiten, sondern eben durch das Spiel mit nationalen Stereotypen. Hoffentlich geht’s im neuen Jahr so liebevoll-köstlich weiter.
Nach achtjähriger Pause geht das ambitionierteste deutsche Sachcomic-Projekt weiter: Jens Harders gezeichnete Evolutionsgeschichte. Wobei es zunächst eine französisches Sachcomic-Projekt war, denn der Band „Alpha … directions“ erschien 2009 beim Imprint l’An 2 des Verlags Actes sud, das der belgische Comictheoretiker Thierry Groensteen als eines der etabliertesten Autorenprogramme für bandes dessinées etabliert hatte – und das will in Frankreich ja einiges heißen. Vor allem richtete Groensteen seinen Blick über die Grenzen – und das wollte in Frankreich damals noch einiges heißen. In Deutschland entdeckte er zwei Personen, die seitdem Furore gemacht haben: Barbara Yelin und eben Jens Harder.
Der Berliner Zeichner, geboren 170 in Weißwasser, überraschte mit seiner dritten französischen Albenproduktion alle, inklusive der Jury des Comicfestivals von Angoulême, die ihm 2010 ihren Prix de l’audace (Wagemutspreis) zuerkannten. In der Tat, das war mutig: Mehr als dreihundert Seiten stark und des exzellenten verwendeten Kunstdruckpapiers wegen kiloschwer, kam „Alpha“ daher – als Bilderflut über die vormenschliche Zeit unseres Planeten, gespeist aus jenen Bildern, die die Menschen sich dann später von ihrer Vorzeit gemacht hatten. Harders schöpferische Leistung besteht im Arrangement, aber auch darin, dass er die Motive selbst noch einmal abzeichnet, so dass einerseits eine wiedererkennbare Handschrift diese Evolutionsgeschichte geprägt (der bekennende Atheist Harder setzt seine schöpferische Kraft gegen das Verständnis einer göttlichen, wobei er genug religiöse Überlieferungen miterzählt, denn wir käme man um die herum?), andererseits aber trotzdem die ästhetischen Eigentümlichkeiten der Vorlagen noch sichtbar bleiben. Ein graphischer Gang auf Messers Schneide. Leider ist wieder mal bei Carlsen keine Leseprobe zu finden, also hier der Verweis auf Harders eigene Website, die seinen Stil deutlich macht: http://www.hardercomics.de/.
Bis der deutsche Carlsen-Verlag „Alpha“ ins Programm nahm, verging ein Jahr, bei „Beta“, der Fortsetzung, die das Geschehen dann in der von Menschen geprägte Epoche führte (deshalb der Untertitel „Civilizations“), war das Haus dann gleich mit dabei. Aber „Beta“ erwies sich angesichts der Überlieferungsmasse als so großes Thema, dass Harder es aufteilte: Teil I bis zur Antike, Teil II bis heut. Nur, dass nach Teil I eben jene erwähnten acht Jahren Pause kamen, geprägt durch andere Projekte und auch die Pandemie, die zwar einsame Arbeit begünstigte, aber Harder bezeichnet sich in dieser Zeit rückblickend als „gespenstisch ausgebremst“. Trotzdem hat er seinen eigenen Zeitplan von vier Jahren nur um drei Monate überzogen, und rechtzeitig zu Weihnachten ist das Buch nun im Handel: wieder kiloschwer und 370 Seiten stark – ein perfektes Geschenk für alle Lern- und Schaubegierigen. Und den satten Preis von fünfzig Euro wert.
Worte macht Harder wenige (obwohl jedem der Epochenkapitel von Altertum bis Neuzeit eine Chronologie mit den wichtigsten Ereignissen folgt, und im Anhang noch ausgiebig erklärt wird, was das Projekt bedeutet und an wen es sich wie richtet), aber es kommt eh auf die Bilder an. Darin wirkt Harder wahre Wunder, obwohl oder gerade weil einem alles bekannt vorkommt. Nehmen wir nur das letzte Bild des ersten Kapitels, Altertum: eine Kirche, aber keine antike, sondern eine ganz moderne, die den Abschluss von vier Seiten darstellt, auf denen die Ausbreitung der christlichen Religion dargestellt wird und sich schließlich ein Kirchenbau an den nächsten reiht. Darunter der Petersdom, die Hagia Sophia, die Sagrada Familia und der Tempel der Mormonen in Salt Lake City, um nur die Berühmtesten zu nennen. Aber das letzte Bild, ganz klein unten in der Ecke, gehört der deutschen Autobahnkirche Siegerland, fertiggestellt 2013, konzipiert vom Architekturbüro schneider+schumacher.
Natürlich ist dieser Bau gefeiert worden, aber darauf kommen muss man schon. Zumal er in Harders Darstellung sichtbar macht, was die Inspiration wiederum für schneider+schumacher war: die Kirchenbilder von Lyonel Feininger, seines Zeichens ja auch eine Größe des Comics. Die über die Konturen des eigentlichen Baus hinausgehenden Mauerzüge nehmen genau die kristalline Zersetzung Feiningers der Kirche von Gelmeroda auf (die – verrückt genug – heute ja auch den Status einer Autobahnkirche hat). Das ist unglaublich witzig und sehr klug. Erstaunlich nur, dass im akribischen Bildquellenverzeichnis am Schluss weder schneider+schumacher noch Feininger Erwähnung finden.
Und nun geht es weiter, denn nach der Gegenwart kommt ja noch etwas: die Zukunft. Der will sich Harder unter dem Titel „Gamma“ widmen, mit all den utopischen Bildvorstellungen dessen, was uns erwartet. In den acht Jahren seit „Beta I“ hat sich so viel gegenüber der ursprünglichen Konzeption verändert, dass Teil II ein anderes Buch wurde als gedacht. Das dürfte bei „Gamma“ nicht anders werden. Und je länger die Fertigstellung brauchen wird, umso gewagter. Ich wünsche Jens Harder einen kurzen Atem, damit er nicht zu lange braucht.
Kürzlich war ich auf der Kibum. Klingt gefährlich: als zündelte da etwas, und dann folgte die Explosion. Wir Comicleser denken ja onomatopoetisch. Aber das Akronym steht für „Kinderbuchmesse“, und die gibt es seit fast einem halben Jahrhundert jedes Jahr im Herbst in Oldenburg. Nicht eben um die Ecke, aber der an der dortigen Universität Kinder- und Jugendliteratur lehrende Thomas Boyken bereicherte das Rahmenprogramm der diesjährigen Kibum um eine Tagung zu Comics (in Kooperation mit der Universität Leipzig). Und daran habe ich teilgenommen.
Die Kibum hat sich längst für Comics geöffnet (ganz im Gegensatz zu vielen Kinder- und Jugendbuchexperten, die gerne immer noch die Schmutz-und-Schund-Debatte der fünfziger Jahre führen). Ihr diesjähriges Motto lautete: „Mehr als krach & bumm! KIBUM, Comics und Graphic Novels“, und damit trägt sie der Tatsache Rechnung, dass Comics einen immer größeren Teil der Lektüre bei Minderjährigen ausmachen. Vor allem Manga. Der Umsatz mit ihnen hat sich 2021 gegenüber dem Vorjahr um mehr als achtzig Prozent erhöht. Da kommt kein anderes Segment des gesamten Buchmarkts mit.
Nun gab es nicht massenhaft Manga auf der Kibum, aber einige konnte ich dann doch in den endlosen Regalen auf zwei Ebenen im Kulturzentrum PFL (das nicht so hässlich ist, wie der Name klingt, denn PFL steht für die historische Bezeichnung „Peter Friedrich Ludwig Hospital“, was sich als prächtiger Klassizismusbau erweist. Davor stehen zur Öffnungszeit um 8.30 Uhr ein halbes Dutzend Schulklassen (und das werden im Laufe des Vormittags noch viel mehr), die hier elf Tage lang einen Überblick zur deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchproduktion der letzten zwölf Monate bekommen. Wie im Buchladen: alles aufgereiht. Wie in der Bibliothek: alles zum Lesen. Und drum herum gibt es tagsüber Veranstaltungen mit Gästen, die ihre Bücher vorstellen. Schönes Konzept.
Aber das hier ist ja kein Blog für Erlebnisschilderungen (deshalb auch nichts über die hochhinteressante Tagung), sondern es soll vornehmlich um Comics gehen. Und es gab einen auf der Kibum, der eigens für die Veranstaltung gezeichnet und gedruckt worden ist: „Das Kibum-Comicbuch“. Zwei Autoren-Zeichner-Gespanne haben es erarbeitet: Volker Schmitt und Màriam Ben-Arab sowie Patrick Wirbeleit und Kim Schmidt. Die ersteren beiden erzählen eine Zukunftsgeschichte um das kleine Mädchen Eira, deren leben allerdings einen eher archaischen Eindruck macht – Dystopie im Aussehen, aber Utopie im Verhalten. Wirbeleit und Schmidt dagegen holen einen Wikinger namens Gorm Grimm aus der Vergangenheit, der ein modernes fast-Food-Lokal aufmischt – viel Action und Slapstick. Und die eine wie die andere Geschichte kindergerecht im guten Sinne.
Dazu gibt es jeweils Erläuterungen der Macher zu Ihrer Arbeitsweise. Das „Kibum-Comicbuch“ ist also ein Nachmachbuch (auch im besten Sinne). Doch als ich es kaufen wollte, hieß es am gutsortierten Bücherstand im Souterrain, diese Publikation werde nur an Grundschulklassen verschenkt, die die Messe besuchen. Kein Verkauf. Aber die gesamte Publikation stehe im Internet gratis parat. Auf der Kibum-Homepage.
Die allerdings, das wusste ich von vorherigen Besuchen, ist die unübersichtlichste Homepage der Welt. Öffnungszeiten etwa? Keine Chance, sie in den einschlägigen Rubriken zu erfahren. Und das Kibum-Comicbuch habe ich auch so lange vergeblich gesucht, bis mir eine freundliche Mitarbeiterin der Oldenburger Stadtbücherei (Ausrichterin der Kibum) den Link schickte. Und hier ist er für alle, die wie ich sonst bei der Suche verzweifelten: https://www.kibum.de/documents/kibum-ebook/2022/kibum-comicbuch/#0. Lesen lohnt, auch wenn man kein Kind mehr ist. So sieht gute Comicvermittlung aus.
Stellen wir uns einmal vor, es wäre schon Ende Januar, der letzte Donnerstag im Monat. Dann sind wir in the mood for love, wie Bastien Vivès sie in seinem neuen Comic beschreibt: „Dernier week-end de Janvier“, erschienen beim französischen Verlag Casterman. Ob dieser band je ins Deutsche übersetzt wird, weiß ich nicht; das Thema könnte zu französisch sein. Nicht der Liebe wegen, sondern eben des titelgebenden letzten Januarwochenendes, denn das signalisiert für Comicleser aus unserem Nachbarland: Angoulême.
Natürlich das dortige Festival international de la bande dessinée, die wichtigste Comicveranstaltung in ganz Europa, Mekka der Szene, ausgerichtet tief im Südwesten Frankreichs, in einer Kleinstadt, die vier Tage lang aus allen Nähten platzt und in der das ganze Jahr über Straßennamen zu lesen sind, die berühmte Zeichner ehren. Diese Stadt lebt Comic, und für vier Tage im Jahr lebt der Comic dort. Und das ist der Handlungsrahmen für Bastien Vivès, in Angoulême schon ausgezeichnet für sein Debüt, das fabelhafte Album „Der Geschmack von Chlor“ aus dem Jahr 2009, da war der Autor gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt. Heute, dreizehn Jahre später, ist aus ihm ein Star geworden, der sich auf allen Felden tummelt, kürzlich erst als Modernisierer von Hugo Pratts Abenteuercomicklassiker „Corto Maltese“ (auch von diesem Blog gewürdigt: https://blogs.faz.net/comic/2022/09/26/ausweitung-der-corto-chronologie-1976/).
Der neue Band ist dagegen selbst geradezu klassisch: Als hätte ein Filmregisseur wie Eric Rohmer oder Claude Chabrol sich an einem Porträt der Comicszene versucht. Wunderschön sieht das aus, ganz leise läuft das aus, aber mit kühler Präzision hin zum unauflösbaren Dilemma. Die Geschichte: Der mit einem in der NS-Zeit spielenden Album namens „Opération Hitler“ erfolgreiche Zeichner Denis Choupin trifft am ersten Festivaltag in Angoulême ein, ist dort einsamer als erwartet, weil sein Szenarist erkrankt ist, und hat sich am letzten Tag in die schöne Vanessa verliebt, die als Begleiterin ihres comicbegeisterten Gatten Christophe angereist ist und sich in Angoulême zu Tode langweilt. Wer je dort war und das übliche Pech hatte, in Schnee und Kälte zu geraten (auf beides ist die Stadt wie ebenfalls üblich nicht gut vorbereitet), der wird sich vorstellen können, was die Anwesenheit für jemanden bedeutet, der keinen Drang verspürt, in die Ausstellungen zu gehen oder sich in die Signierschlangen einzureihen.
So sieht das aus: https://www.casterman.com/Bande-dessinee/Catalogue/albums/dernier-week-end-de-janvier – grau und kalt wie eben Angoulême meist Ende Januar. Vivés hat die Grauschattierungen längst zu einem Markenzeichen gemacht, kaum noch Spuren des großflächigen Farbauftrags von „Der Geschmack von Chlor“, und hier passt seine Ästhetik perfekt zum Inhalt. Auch zur Tristesse von Vanessa, die sich auch in Denis verliebt, aber am Ende weg ist. Vorher aber gibt es noch viel mehr Reise- als Liebesverwirrungen, denn eigentlich müsste Denis schon am Samstagabend nach Paris zurück, um die Hochzeit seines Sohnes zu feiern. Ein Ticket hat er nicht, und in den französischen TGV gilt harte Reservierungspflicht. Aber nachdem er Vanessa durch Zufall kennengelernt hat, sind seine Gedanken ohnehin selten bei der Familie daheim
Diese Liebesaffäre ist typisch französisch und als solche wenig originell. Was „Dernier week-end de Janvier“ reizvoll macht, sind Stimmung und Dekors. Nur ganz zu Beginn grüßt eine Comicfigur in die Geschichte hinein: vom Eingangsportal des Bahnhofs, danach spielten sich zwar viele authentische Details im Hintergrund ab, aber sie sich meist nur angedeutet, also nur für Kenner zu genießen. Wen das Festival nie besucht hat, wird aber trotzdem nichts vermissen.
Denn was zählt, ist die amouröse Ambivalenz der beiden Hauptfiguren (Christophe bleibt ein Abziehbild, eine echte Comicfigur, wie Vanessa sie in deren Eindimensionalität verspottet). Aber was Denis und Vanessa zueinander zieht, das erklärt Vivès nicht, das zeigt er einfach als Faktum, und man glaubt jede Geste. Dieser große Erotiker des französischen Comics macht sogar einen Liebesakt völlig unpeinlich zu einer Sequenz von mehreren Seiten, den hier wird im besten Sinne bürgerlich geliebt: kein Hollywood-Gestöhne oder Strip-tease für die Betrachter, sondern ein sich aus den Berührungen ergebendes Verführen, das auf Dialoge ebenso verzichten kann wie auf Haut-Schauwerte. Vivès, möchte man einen, ist auf einen Schlag erwachsen geworden.
Unvergesslich der nächtliche Besuch eines Clubs irgendwo unterhalb des Hügels mit der Altstadt, und man geht in Gedanken mit den Protagonisten, weil man ihre Unvertrautheit mit dem Angoulême abseits des Festivals kennt. Da sind die Treffen der Zeichner und Verlagsleute im „Chat noir“ und anderswo, die Abendessen, die beiden großen Hotels, in denen alle Etablierten unterkommen, und da sind die kleinen Rituale der Besucher. Psychogramm einer Faszination, Topographie eines Comicfestivals – Vivès liefert beides in Vollendung.
Man möchte danach sofort aufbrechen nach Angoulême, obwohl keine der Schattenseiten des Festivals verschwiegen wird. Aber wie immer, wenn man bei Lektüren bekanntes Terrain vorfindet, entsteht Sehnsucht. Und es würde mich interessieren, ob es Menschen, die bislang nicht dorthin gereist sind, dank Bastien Vivès‘ Liebeserklärung an Stadt und Festival ähnlich gehen könnte. Das spräche dafür, dass er einen glaubwürdigen Raum für seine Geschichte geschaffen hat – eine Stadtlandschaft, die wir als reale erkennen, auch wenn wir nie dort gewesen sind. Für die von diesem Comic hoffentlich derart Bewegten also hier die wichtigste Information: Das nächste Festival findet vom 26. bis zum 29. Januar 2023 statt.
Ganz neu ist die Idee natürlich nicht. Hierzulande ist mir dieses Konzept vor bald anderthalb Jahrzehnten zum ersten Mal begegnet: mit dem von Olivia Vieweg herausgegebenen, im Mangastil gehaltenen „Storybook“ zu Liedern der Band Subway to Sally, dem 2012 noch ein zweites folgte. Auch darin hatten jeweils unterschiedliche Comiczeichner die Texte der Band als Vorlagen für Geschichten genommen. Aber warum soll eine gute Idee keine Wiederauferstehung erleben? Zumal, wenn die beiden Herausgeber der Ventil-Reihe, Gunther Buskies und Jonas Engelmann, namhafte Mitwirkende zu bieten haben?
Die Liste der Beteiligten liest sich in der Tat wie ein Who is Who der deutschsprachigen Comicszene (und eine Leseprobe hat Ventil immer noch nicht hinbekommen, aber in einer Rezension des Deutschlandfunks findet man zumindest wenige Beispiele aus dem Band: https://www.deutschlandfunkkultur.de/keine-macht-niemand-comic-ton-steine-scherben-100.html). Um nur einige zu nennen, die am jüngsten Band, dem zu Ton Steine Scherben, mitgezeichnet haben: Kathrin Klingner, Nicolas Mahler, Bianca Schaalburg, Sheree Domingo, Reinhard Kleist, Mia Oberländer, Sascha Hommer, Jan Soeken, Ulli Lust. Die Reihenfolge dieser Berühmtheiten folgt der Anordnung im Buch, die sich wiederum an der Playlist des Ton-Steine-Scherben-Albums „Keine Macht für niemand“ von 1972 orientiert, denn mit dem Fehlfarben-Band wurde ein neues Konzept etabliert: nicht einfach Lieblingssongs wie in den ersten beiden Comicbüchern, sondern Konzeptalben, die eine gesamte Platte abbilden. Bei Fehlfarben war es natürlich „Monarchie und Alltag“, und auch bei Ton Steine Scherben ist die berühmteste ausgewählt worden.
Das erweist sich allerdings als Problem, denn dieses weitaus eingeschränkterer Konzept erlaubt nur noch in Ausnahmefällen die Umsetzung von Lieblingsstücken. Das meiste wird zur Pflichtaufgabe, und genau so klingen dann auch die einleitenden Worte der beteiligten Zeichner. Der Regelfalle ist: Ich kannte das Stück noch gar nicht … oder „Ich bin nicht mit Ton Steine Scherben … aufgewachsen – was auch daran liegen mag, dass die Platte fünfzig Jahre alt ist, die älteste beteiligte Künstlerin aber erst fünfundfünfzig. Biographische Erlebnisse verbinden sich also für kaum jemanden mit der Musik.
Und das merkt man etlichen Comics auch an. Daran können dann nicht einmal die kurzen Stellungnahmen von Musikern oder Aktivisten, die an der Aufnahme von „Keine Macht für niemand“ mitgewirkt haben, vor den einzelnen Liedadaptionen etwas ändern. Natürlich sieht man gerne Comics von solchen Könnern, aber gute Zeichnungen allein machen noch keine guten Geschichten aus. Und Liedtexte bieten in wenigsten Fällen geeignete Szenarios. Da muss etwas hinzutreten, was aber nur von der Zeichnerin Daniela Heller in ihrem Comic zu „Der Traum ist aus“ geleistet wird: eine zweite inhaltliche Ebene.
Schade also, dass das vielversprechende „Songbook“-Konzept schon so schnell verwässert. Zumal diesmal auch die comicartigen Zugaben aus dem Bandumfeld eher peinlich sind: Kürzestgeschichten von Rio Reiser und Nikel Pallat. Aber auch solche Zugaben gehören eben zum Konzept; Qualität darf da keine Rolle spielen. Aber nur daran wird sich die Berechtigung der Reihe bemessen lassen. Sofern es dem Ventil Verlag nicht reichen sollte, an die jeweiligen Fans einer Band ein paar hundert Bücher zu verkaufen.