Manuele Fior ist neben Gipi der große italienische Zeichner der mittleren Generation, und wie man auf der ihm gewidmeten Ausstellung beim diesjährigen Comicfestival Fumetto in Luzern einmal mehr sehen konnte, der stilistisch vielseitigste. Umso überraschender ist, wenn er sich inhaltlich wiederholt wie in seinem neuesten Band „Hypericum“. Nicht, dass jetzt jemand vermutete, dieselbe Geschichte zu lesen wie früher, aber für Fior ist schon ungewöhnlich, dass er einen Handlungsort und ein Handlungsmotiv zum zweiten Mal verwendet. Es ist Berlin, es sind junge Italiener in Berlin.
Dort war nämlich schon Fiors mittlerweile achtzehn Jahre zurückliegendes Debüt angesiedelt: „Menschen am Sonntag“, betitelt nach dem berühmten Spielfilm von 1930, der vom sicherlich prominentesten Regiequartett der Filmgeschichte inszeniert wurde, bestehend aus den Brüdern Siodmark, Edgar G. Ulmer und Billy Wilder. Der ebenso poetische wie pittoreske Stummfilm feierte das Leben der kleinen Leute im Berlin der Weimarer Republik, und Fior nahm ihn sich zum Vorbild bei der Schilderung seines eigenen Lebens in der deutschen Hauptstadt zwischen 2000 und 2005. Bei ihm bevölkerten denn auch keine indigenen Berliner die schwarzweißen Seiten, sondern italienische Protagonisten.
Das ist in „Hypericum“, der wiederum beim Avant Verlag erschient, nun genauso, wobei sich nicht nur die farbenfrohe Graphik drastisch vom Vorgänger unterscheidet (die eher sparsame Leseprobe zu „Menschen am Sonntag“: Menschen am Sonntag – avant-verlag, die sehr großzügige zu „Hypericum“: Hypericum – avant-verlag), sondern auch das Personal diesmal auf zwei Personen beschränkt. Da ist einmal die gerade frisch aus Italien nach Berlin gekommene Archäologiestudentin Teresa, die eine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einer bevorstehenden großen Tutanchamun-Ausstellung antritt. Das alte Ägypten ist der von Schlaflosigkeit geplagten jungen Frau vertrauter als das moderne Berlin, und so wird ihr ein schon länger dort lebender Landsmann zum Cicerone durch die Stadt: der im Tacheles wohnende Lebenskünstler Ruben, mit dem sich bald eine Liebesbeziehung entwickelt. All das spielt sich wieder um die Jahrtausendwende ab, zu jener Zeit also, die Fior aus eigener Anschauung kennt – obwohl es damals gar keine Tutanchamun-Ausstellung in Berlin gab. Aber für seine Fiktion braucht Fior sie.
Denn die zweite Handlungseben seines Comics ist eine Adaption der Schilderungen von Sir Howard Carter von der Auffindung von Tutanchamuns Grab Ende 1922 und dessen Öffnung im darauffolgenden Februar. Teresa liest diese berühmte Publikation in Berlin, und Fiors Bilder dazu sind nicht einfach ihren Erlebnissen zwischengeschaltet, sondern rahmen „Hypericum“. Und sie geben dem Band auch den Titel, denn das, was Carter am meisten von allen Grabbeigaben beeindruckte, war ein nach Jahrtausenden noch immer erhaltener Blütenkranz aus dem Sarkophag des jugendlich gestorbenen Pharaos, gefertigt aus Johanniskraut, botanisch Hypericum perforatum – einer Heilpflanze, die Ruben auch Teresa zur Bekämpfung von deren Schlafstörungen empfiehlt.
Fior ist diesmal stilistisch ganz nahe an Igort gerückt, seine Pastelltöne sind warm gehalten und unterstreichen sowohl die Wüstenstimmung der Ägypten-Partien als auch die romantischen Züge der Berlin-Erzählung. Gegen die karge Landschaft des Tals der Könige wird das das noch faszinierend unfertige wiedervereinigte Berlin gesetzt, in dem ein Punk wie Ruben sein Dasein aber auch schon nur deshalb fristen kann, weil er von seinem wohlhabenden Vater finanziell unterstützt wird. Die suggerierte Freiheit des jungen Mannes ist ebenso Illusion wie der ganze Zauber des Berliner Lebens, dessen Schilderung bezeichnenderweise mit dem 11. September 2001 endet, dem Tag der Attentate aufs World Trade Center – Ende jenes Dutzends Jahre, in denen man die Welt auf dem richtigen Weg wähnte.
Trotz der für Fior typischen Soft-Erotik mancher Sequenzen, wie sie sonst nur Jean-Pierre Gibrat ähnlich geschmackssicher und doch auch geschmäcklerisch zeichnet, ist „Hypericum“ eine große Desillusionierungsgeschichte mit einem allerdings erstaunlich sanften Finale. Alles spricht dafür, dass Teresa und Ruben zusammenbleiben werden, und da berührt sich der Band dann doch wieder mit „Menschen am Sonntag“, der eine ebenso wehmütige Bilanz von Fiors Berliner Erfahrungen bot, die hier jedoch vom Autobiographischen aufs rein Fiktive übertragen wird. Und diese Variation des Vertrauten wird den Autor gereizt haben. Sie dürfte auch für sein Publikum den größten Reiz ausmachen, denn etwas Neues gibt es diesmal bei Fior nicht.