In dieser Woche musste unter anderem Folgendes leider auf die lange Bank geschoben werden: Mary Fenimore Cressp. Cooper, Jerichow, Aufstände in Detroit, Johnsons Stadtbeschreibungen, Johnsons Erzählstil, D. E. Der Grund: die Tante „erwartet Respekt“. Zweite Wochenlektüre.
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Tantenmodelle und die New York Times (31. August 1967)
„Was für eine Person stellt Gesine sich vor, wenn sie an die New York Times denkt wie an eine Tante?“ Den Tantenmodellen ihrer Kindheit und Jugend – nachsichtig, gehässig, verachtet – entspricht die New York Times jedenfalls nicht. Sie ist aus vornehmer, einflussreicher Familie, die sich ihr Vermögen hat „erarbeiten lassen, schlicht zeitgemäß“ – was immer das in den Augen einer Bankangestellten heißen mag. Sie ist die Überlebende einer einflussreichen Familie, sie „hat ihre Affairen gehabt“ (in Europa und standesgemäß), ist ledig geblieben. Sie ist weltgewandt, lebensklug, respektheischend, eine Salonnière für frühere Liebhaber und den Nachwuchs gleichermaßen, eine Ratgeberin. „Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine eine solche Tante nicht.)“ Wäre Emma Woodhouse nicht von Jane Austen verheiratet worden, sie hätte das Zeug und Vermögen zu einer solchen Tante gehabt.
„Jedoch ist diese Person nicht nur angenehm. Ihre Manieren sind nützlich, sind bildend. Sie brüllt nicht, sie hält Vortrag. Auf fünfzehn mal dreiundzwanzig Zoll, acht Spalten, bietet sie über zwanzig Geschichten zur freien Auswahl.“

Eine vornehme Dame war die New York Times nicht immer, sie war 1851 als gewinnversprechende Penny Press gegründet worden, jenem preisgünstigen Massenmedium, das Zeitungslektüre auch für Mittel- und zum Teil Arbeiterschichten verfügbar machte. Erst als Adolph Ochs 1896 die Zeitung kaufte und mit dem Konzept „Withour Fear or Favor“ versah, wurde sie vornehm. Damit wurde klar, wer in ihrem Salon empfangen werden sollte und was vom Vortrag der Tante zu erwarten wäre. Glaubwürdigkeit, Würde, Ernst, Fleiß, Wachsamkeit, Ehrlichkeit, Wissen und gesunder Menschenverstand sollten die Zeitung nach Ochs’ Willen ausmachen. Keinen Gefälligkeitsjournalismus sollte es geben, sondern schnelle, verlässliche Berichterstattung, ein Forum, das alle Themen von öffentlicher Bedeutung aus unterschiedlichen Perspektiven diskutierte.
In der genaueren Beschreibung der Tante klingen daher nicht nur Brechts „Lob des Kommunismus“ sondern auch Ochs’ Standards für den Journalismus der New York Times mit:
„Sie nennt den Angeklagten noch nicht schuldig. […]
Sie erwähnt Hörensagen als Hörensagen.
Sie lässt noch zu Wort kommen, wen sie verachtet. […]
Sie schilt das unverhältnismäßige Urteil.
Sie hat wenigstens Mitleid.
Sie ist unparteiisch gegen alle Arten der Religion. […]
Sie flucht nicht, noch dass sie den Namen Gottes fälschlich gebraucht.
Sie steht gelegentlich Irrtümer ein.“
Gesine Cresspahl schätzt den Informationswert des Politikteils der New York Times sehr – das Feuilleton ignoriert sie. Die Belobhudelung der anspruchsvollen Tante – „Sie hat die guten Formen mit dem Löffel gegessen“ – schließt allerdings mit der Frage „Warum sollen wir ihr nicht vertrauen?“.
Die kritische Leserin (27. August 1967)

Warum wir der New York Times nicht immer vertrauen können, haben Johnson und Cresspahl schon vier Tage vorher erklärt, als ein – „mehr als acht volle Spalten“ – empörend langes Interview mit Stalins Tochter Swetlana Allilujewa (1926–2011) erschien, das zugleich noch Werbemaßnahmen für deren Autobiographie „Zwanzig Briefe an einen Freund“ versprach, die ab September in Auszügen abgedruckt werden sollte. Allilujewa hatte im März 1967 in der amerikanischen Botschaft in Neu-Dehli um Asyl gebeten und war mithilfe des CIA über die Schweiz in die Vereinigten Staaten gekommen, wo sie im ersten Interview nun ihre ganz eigene Version der Stalinära verkaufte. „Diese ungeratene Tochter Etzels saß demnach bei den Goten auf Long Island, in einem Garten unter einer Schwarzeiche und sagte: Sie sei im allgemeinen für die Freiheit.“
Liest man nicht nur den Eintrag vom 27. August 1967 mit den spitzen Bemerkungen zum „Wie“ der Berichterstattung, sondern den gesamten Artikel, so könnte man meinen, Johnson und seine Zeitungsleserin hätten noch sehr viel mehr aus diesem Beitrag herausholen können. Der lässt die naive Selbstdarstellung Allilujewas so gut wie unkommentiert, etwa wenn die ihren Schreibstil als lyrisches Berichten (lyrical reporting) charakterisiert – eine Technik, die sie auch im Interview anwendet, wenn sie etwa von angeborenem religiösem Gefühl oder der Einsamkeit ihres Vaters plappert.
Gesine Cresspahl ist an diesem Sonntag als treue aber kritische Leserin des Politikteils gegenwärtig, der Eintrag bringt uns die Figur Cresspahl über ihre Lektürepraxis näher und erzählt zudem vom Verhältnis dokumentarischer Fakten und Figur. Ich stelle sie mir etwas wutschnaubend oder doch zähneknirschend vor, wenn sie von der kichernden Diktatorentochter liest. Bemerkungen wie „Die New York Times hält für nötig, dass wir wissen“ zeigen die ironische Distanz zur Tante. Cresspahl lässt uns an diesem Sonntag daran teilhaben, was sie wahrnimmt: „Die New York Times bringt in unsere Erfahrung“.
Mrs. Ferwalter (2. September 1967)
Fakten und Erzählung werden in dieser Lektürewoche noch auf andere Weise verknüpft. Am 2. September 1967 erzählt Johnson das erste Mal ausführlich von der Nachbarin Mrs. Ferwalter, an der fiktionales und dokumentarisches Erzählen verschmelzen. An diesem Tag geht es um die Spätfolgen des Konzentrationslagers für die ruthenische Jüdin, die 1944 nach Mauthausen deportiert worden war. Was Mrs. Ferwalter davon preisgibt, deren am Arm eintätowierte Nummer sie noch vor dem ersten Gespräch mit Gesine 1961 als Überlebende der Shoah kenntlich macht, rekonstruieren Gesine Cresspahl und der Erzähler („wir“) über Jahre hinweg aus Erzählschnipseln, eine zeitlich gedehnte, fiktive oral history: „Die Ärzte nennen das Fett in ihren Schultern, am ganzen Leibe einen Ausdruck des KZ-Syndroms. Zu diesem Syndrom gehören ihre Schlaflosigkeit und eine dauerhafte Entzündung der Atemwege […]. Wir haben sie hiernach nicht gefragt. Sie hat dies in sechs Jahren erwähnt, achtlos und nebenher, wie man unter Freunden Stücke aus seinem Leben erzählt.“
In den Anträgen für Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz, die ich in den 1990er Jahren als Praktikantin des „Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte“ las, gab es ähnliche Diagnosen. Siebzig Prozent ihrer Lungentuberkulose, so attestierten deutsche Ärzte jüdischen Überlebenden, rührten vom „Aufenthalt“ im Konzentrationslager her. Was für eine absurde Zahl, doch die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit – Grundlage für die Berechnung einer möglichen Rente – bemaß sich in Prozenten. „Schaden an Körper und Gesundheit“ mussten ebenso belegt werden, wie der „Schaden an Leben“. Und so waren auch Zeugenaussagen des Cousins eines Antragstellers zu finden, der gesehen hatte, dass Frau und Kinder an der Rampe in Auschwitz für die Vernichtung in den Gaskammern bestimmt wurden.
Ob Mrs. Ferwalter, deren Mann nicht viel verdient, die ihr Geld für die teure Schule ihrer Tochter Rebecca ausgibt und sich deshalb keine Zeitung leistet (Gesine liest ihr daraus vor), einen Antrag auf Entschädigung gestellt hat? Vielleicht erfahre ich es noch. Nach einem Beschluss des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 1965 war eine Antragstellung längstens bis zum 31. Dezember 1969 möglich.
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Literatur
Norbert Mecklenburg, Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt a. M. 1997, S. 255–269.
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Stefan W. Elfenbein, New York Times. Macht und Mythos eines Mediums, Frankfurt a. M. 1996
Without Fear or Favor, New York Times, 19. August 1996, Wiederveröffentlichung des Statements von Adolph Ochs vom 19. August 1896.
Mrs Alliluyevah’s New Life Here. She Hails Freedom in the U.S. and Recalls Stalin Years, The New York Times, 27. August 1967.
Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz)
Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte
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Über die Wichtigkeit von Tanten ist ja (glaube ich) noch viel zu wenig geschrieben worden. Da müssten Bibliotheken drüber gefüllt werden. Tante als Metapher für eine so ehrwürdige Institution wie die NYTimes: das passt.
Schön ausgeführt in diesem Text.
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Danke, ein wunderbarer Blog! Ich liebe Uwe Johnson und das ist eine großartige Überraschung.