„Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl“, lobt der Steuerfachmann James Shuldiner seine Kollegin. Die bedankt sich zwar, doch sie ist „nicht stolz“ auf dieses Gedächtnis, das ihr zum gesuchten Jahr 1937 „wieder nichts […] als ein statisch isoliertes Bruchstück“ liefert. Wie funktioniert Erinnerung? Dritte Wochenlektüre.
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„Daß das Gedächtnis das Vergangene doch fassen könnte“ (8. September 1967)
Am 8. September 1937 fiel Gesine Cresspahl in die Regentonne hinter dem elterlichen Haus, der Vater zog die Vierjährige heraus, die Rolle der Mutter ist hier noch unklar, auch wenn der Erinnerungsfetzen „Lisbeth ick schlå di dot“ nichts Gutes verheißt. Cresspahl will sich erinnern, will erforschen, was passiert ist, doch der „Speicher des Gedächtnisses“ liefert ihr zu 1937 nur willkürlich etwas: Hinrichtungen in Moskau oder das Gesetz zu Cash and Carry, das bei Barzahlung Waffenlieferungen an kriegführende Nationen erlaubte. Damit kann sie zwar Mr. Shuldiner begeistern oder Prüfungen überstehen, aber gesucht wird das Erinnern. Das aber verweigert sich einem steuerbaren Zugriff.
„Auf Anstoß, aus dem blauen Absurden liefert es freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprache, abgetrennte Gesten; halte ihm hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch aus Gustafssons berühmten Fischsalat, und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern. Die Blockade lässt Fetzen, Splitter, Scherben, Späne durchsickern, damit sie das ausgeraubte und raumlose Bild sinnlos überstreuen, die Spur der gesuchten Szene zertreten, so daß wir blind sind mit offenen Augen.“
Die Passage ist mehr als eine freche Geste in Richtung Proust. Der Fischsalat und seine Hauptgerüche haben nicht einen Moment lang den Effekt der in Tee getauchten Madeleine, kein „unerhörtes Glücksgefühl“ durch unwillkürliches Aufsteigen vergangener Bilder setzt ein, im Gegenteil: es bleibt Leere. Eine Wiederkehr verschütteter Vergangenheit wird durch Sinneseindrücke nicht ausgelöst, das Vergangene ist „versteckt in einem Geheimnis“. Und so bleibt es für Gesine Cresspahl an diesem 8. September 1967 bei einem Aufblitzen von Erinnerungsbildern, bei Sprachfetzen und – wie sie Shuldiner gegenüber erklärt – einem „Tagtraum“.

„Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei“ schreibt Walter Benjamin in „Über den Begriff der Geschichte“, und so greift Cresspahl statt der „Katze Erinnerung“ ihre Handtasche wie eine. An diesem Tag kann sie sich nur daran erinnern, wie sie auf die Regentonne stieg, dass ihre Mutter in der Nähe gewesen sein muss, wie die Katze sich auf den Holzpantoffeln ihres Vaters zum Schlafen legte und sie sich vor ihr fürchtete. „Dor kann se ruich sittn gån“ – der Satz des Vaters bricht in ihre amerikanische Unterhaltung mit Shuldiner. Die Katze steht für das Ungesicherte, das Unzugängliche von Erinnerung, sie sitzt auch hinter dem Fenster, als das Kind Gesine auf die Regentonne steigt. Am 8. September 1967 bleibt sie „abweisend, unnahbar, stumm“, aber eben auch „verlockend“.
„Versuch, einen Vater zu finden“ (4. und 6. September 1967)
Diesen Titel gab Uwe Johnson 1975 einer Lesung für den NDR, in der er die Jahre 1888 bis 1914 aus dem Leben Heinrich Cresspahls erzählte. Dieser Versuch, sich dem Vater durch Erinnern zu nähern, durch das Erforschen seiner Vergangenheit, um sein Verhalten in der eigenen Kindheit und Jugend zu verstehen, ist Teil von Gesine Cresspahls Erinnerungsprojekt. „Was wollte Cresspahl in einer solchen Familie?“, will sie erforschen. Gemeint sind die Papenbrocks, deren Familienvorstand Albert nach dem Ersten Weltkrieg auf einem gepachteten Gut adeliges Leben imitiert und Freikorpssoldaten der „Baltikumer“ bei sich versteckt, obwohl die sich nach dem Versailler Vertrag auflösen müssen. Während des Kapp-Putsches kommen 1920 Landarbeiter auf das Gut und wollen es nach Waffen durchsuchen. Gesines Mutter Lisbeth erzählt ihnen, wo ihr Vater die Waffen versteckt hält, nach denen sie suchen: „Inne Döe“, in der Tür. „Meine Mutter wurde für zwei Wochen auf Wasser und Brot gesetzt. Papenbrock sprach von Verrat durch sein eigen Fleisch und Blut.“ Louise Papenbrock verteidigt ihre Tochter, da schlägt ihr Mann sie ins Gesicht, es „rutschte die Hand aus an ihre Schläfe“. Auch der ältere Bruder Robert ist kein wünschenswerter Familienzuwachs, er schindet Pferde zu Tode und schwängert eine junge Frau, als Konsequenz muss er nicht heiraten, sondern nach Südamerika auswandern.
Als der Vater im Spätsommer um Lisbeth Papenbrock wirbt, ist der Plan noch, nach Richmond umzuziehen und britische Staatsbürger zu werden. Ihr Vater, einst Unterstützer des Kapp-Putsches, ist inzwischen Nationalsozialist. All das weiß der Sozialdemokrat Heinrich Cresspahl, als er um Lisbeths Hand anhält. Die Frage „Was wollte Cresspahl in einer solchen Familie?“ ist zugleich verständlich und vergeblich. Wenn wir heute an unsere Väter denken, dann ist diese Erinnerung überformt von neuem Wissen, Aussagen anderer, neuen Erfahrungen, auch dem Vergessen und jenen Umständen, die Erinnerungen jeweils auslösen: Der Jahrestag der letzten Begegnung, ein Gespräch mit der Mutter, ein Gegenstand aus seinem Besitz. Der Umschlag des Gegenwärtigen in das Vergangene kann plötzlich erfolgen, ist ein „Tigersprung in die Vergangenheit“, wie Walter Benjamin es nennt. Was den auslöst, ist ungewiss und nicht zu steuern.
Literatur
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders. Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band 1.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 691–704.
Eva Erdmann, mémoire involontaire, in: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek b. Hamburg 2001, S. 367f.
Uwe Johnson, Versuch, einen Vater zu finden. Marthas Ferien. Text und Tonkassette, Frankfurt a. M. 1988.
Norbert Mecklenburg, Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt a. M. 1997, S. 228–236, 433–441.
Johnson - ein lohnendes Leseerlebnis
Schön, dass Sie die Tiefen der „Jahrestage“ des Wahrheitssuchers Uwe Johnson auf diese Weise ausleuchten – eine Denkschule erster Güte, die gerade in unserer Zeit der schnellen Urteile und des realitätsfernen Beharrens angemaßter Scheineliten auf Deutungshoheiten ihre hohe Relevanz beweist.
Wahrheitssuche zu Zeiten der Blitzmeldung
Verblasst Wahrheit in der Überlagerung mit einer Neuen? Der Sinn der Suche zu einem Spiel um Geschwindigkeit und Ausdauer? Freude wird zum Elixier der Maximierung ohne tatsächlichen Fund der Wahrheit. Tausend Worte zu bändigen die Aufgabe der Erinnerung.