Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

Vierte Lesung: Familienbande und Wahlverwandtschaften

| 5 Lesermeinungen

Vom Werben und Lieben Heinrich Cresspahls, von der schwierigen Tante Zeitung, einer Begegnung mit dem Chauffeur des Vorgesetzten und der gewitzten Tochter Marie erzählt Uwe Johnson in dieser Woche und verleiht so Gesine Cresspahl mehr Kontur. Vierte Wochenlektüre.

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Darum geht es in diesem Blog

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Vom Werben und Lieben Heinrich Cresspahls (10. und 14. September 1967)

1931 wirbt der Sozialdemokrat Heinricht Cresspahl in Jerichow stur um die Tochter des örtlichen Getreidehändlers und deutschnationalen Albert Papenbrock. Er säuft dafür mit Nazis, interessiert sich vordergründig für die „Sorgen des ostelbischen Adels“, schleppt den betrunkenen Schwager in spe nach Hause und macht auch noch mit seinem Vermögen etwas her.

Klütz in Mecklenburg, Vorlage für das fiktive Jerichow der Jahrestage

Von seinem Schwiegervater zeigt er sich unbeeindruckt, obwohl der noch „vor wenig Jahren sein Vorgesetzter“ hätte sein können – zumindest glaubt das Papenbrock. So macht Heinrich Cresspahl einem Mann, der gern Imponiergebärden zeigt und Kellnerinnen wie Ehefrau gleichermaßen anranzt, das Handeln schwer. Obwohl ein solcher Schwiegersohn ihn bei seinen Stahlhelmfreunden sicherlich unmöglich machen würde, nicht zuletzt wegen dessen öffentlicher Bekanntschaft mit dem jüdischen Tierarzt Dr. Semig: „Papenbrock wusste gegen den Mann nichts zu tun.“ Er willigt in die Verlobung ein, „denn wollen wir also verwandt sein“, ohne von den Auswanderungsplänen des Paares zu wissen. „Vadding wi bliewn nich“ offenbart Lisbeth Papenbrock erst bei der Verlobungsfeier, als sie sich „noch einmal als seine Vorzugstochter“ zeigt und ihn bedient.

Im New York des Jahres 1967 hadert seine Tochter Gesine wieder und wieder mit der Brautwahl ihres Vaters, „blind vor Verstrickung in sein Bild von der jüngsten Tochter Papenbrocks, als sei sie für sein Leben das einzig nötige“ sei der gewesen. Ein Mann, der an den Kornschnittern vorbeigeht, einem Urlauber gleich, obwohl diese Landarbeiter doch der Schicht angehören, aus er selbst stammt, für die seine Partei eintritt. Die ihm eigentlich näherstehen müssten als der mit Getreide handelnde Schwiegervater, der die Gewinne abschöpft von dieser Ernte. Ein Mann, der die Warnungen von Meta Wulff in den Wind schlägt, er handele sich mit Lisbeth eine Kanzelschwalbe ein, die Bibelstunden „über die Christenpflicht“ hinaus für Kinder abhält und der aus dieser Mitteilung nur ihre Liebe zu Kindern zu erkennen vermag. „Er hat sich vergessen“ – das ist die einzige Erklärung, die sich Gesine Cresspahl jetzt geben kann, für dieses Lieben und Werben um ihre Mutter.

„Ist nicht die Wiederholung unerträglich: daß immer wieder das Bedürfnis nach einer Person das Bewußtsein wie zum ersten Mal nach dem alten Raster preßt, daß längst ausgedachte Empfindung wiederkehrt wie frisch, daß die Vorstellung unermüdet von neuem die bloße Außenseite einer Person ausdeutet und ausbaut zu allen denkbaren Entsprechungen zwischen ihr und ihm, daß die Leerstellen in der wirklichen Person ungewarnt verdeckt werden von dem Bild der Person, […] er muss sich vergessen haben.“ Diese Wiederholung von Gefühlen kennt 36 Jahre später auch die Tochter, mit D. E. und vielleicht auch mit de Rosny, dem Vizepräsidenten ihrer Bank.

Mit der Tante über Swetlana Stalina streiten (11. September 1967)

Mit der vornehmen Tante „New York Times“ hat Gesine Cresspahl in dieser Woche Streit. Obwohl sie ihr seit sechs Jahren und über Preissteigerungen hinweg treu ist, lässt die es zu,

Im September 1967 veröffentlichte die New York Times Auszüge aus Swetlana Allilujewas Autobiographie

dass Swetlana Stalina, die sich nun nach dem Mädchennamen ihrer Mutter Allilujewa nennt, geschichtsklitternd über ihre Familie in der New York Times schreibt und das insgesamt zwölfmal. Selbst die Fotos für die Artikel darf sie selbst auswählen. Der zu Steuergenauigkeit mahnenden Tante macht es in diesem Fall auch nichts aus, dass sie das Honorar einer Stiftung in Liechtenstein überweist. Aber Gesine Cresspahl kann es nicht leiden, wenn Prinzipien über Bord geworfen werden, nicht beim Vater, nicht bei ihrer Zeitung und wohl am allerwenigstes bei sich selbst. Gräfin Seydlitz, in der Vorveröffentlichung des Merkur 1970 noch als Hannah Arendt kenntlich, nennt sie deshalb naiv. „Mrs. Albert Seydlitz meint: daß Gesine in ihrem Mißtrauen gegen bürgerliche Traditionen versehentlich auch bloß mißbrauchte, im Grund menschennötige schwarz malt. Wir müssen unser Leben nicht nur mit Brot ernähren; auch mit Beweisen, Kind.“ Beweise aber kann Gesine Cresspahl anführen, etwa die Entlastungsgeschichten, die von der Tochter über den Vater Stalin erzählt werden, die ihn als Freizeitmenschen, als liebenden Vater und im Stil einer Homestory darstellen. Die „New York Times“ ist ihr Stimme der Vernunft und nicht zu bändigende Tante zugleich, „sie hat uns ausgerüstet mit Gründen für ein Leben in New York! hier zum ersten Mal konnten wir unsere Anwesenheit zusätzlich mit Vernunft auslegen und sagen, daß eine hiesige Zeitung die Nachrichten aus Deutschland mit denen aus der Welt in ein richtiges Verhältnis setzt“. Und so darf sie auch irritieren, wie es andere mit Wahlempfehlungen tun, auch wenn das Augenzwinkern bei Swetlana Allilujewas Memoiren fehlt.

Von Chefs und Chauffeuren (12. und 13. September 1967)

Am Dienstag wird die „Angestellte Cresspahl“ von einem uniformierten Chauffeur zu einem Treffen mit dem Vizepräsidenten ihrer Bank gefahren, um für ihn zu übersetzen. Gesine Cresspahls Skepsis gegenüber bürgerlichen Traditionen könnte größer kaum sein: Dass der afroamerikanische Fahrer ihr nur seinen Vornamen nennt, ist ihr ebenso unerträglich, wie es sein „Jawohl, Madam“ und die hochgezogene Trennscheibe im Wagen sind, und so kommt sie sich deplatziert vor, „befördert und eingeschlossen wie ein bestelltes Paket“. Auf die Idee, Arthur könne etwas an den Tag legen, was Alf Lüdtke als „Eigen-Sinn“ bezeichnet hat, dass er einen eigenen Umgang mit Normen und Regeln hat und über die Trennscheibe ebenso entscheiden könnte wie über die Preisgabe seines Nachnamens, darauf kommt Gesine Cresspahl nicht – vielleicht auch eine Konsequenz ihrer zu rigiden Bewertungen dieser Traditionen. Als de Rosny in den Wagen steigt, ist die Trennscheibe heruntergelassen, wird Privates ausgetauscht, von Reisen und Söhnen erzählt. Man kann sich das Verhältnis wohl ein wenig wie das zwischen Frank Underwood und dem Diner-Besitzer Freddy Hayes vorstellen: wohl ein freundschaftliches, tatsächlich aber ein hierarchisches, auch wenn beide Seiten Regeln machen dürfen und über das Ende entscheiden können.

Gesine Cresspahl aber muss einen Blick abwehren, der sagt „Ich hätte wissen sollen, dass der Chef dir den Arm um die Schultern legt […] Gesine, oder wie Du immer heißt“. Zur Hölle soll er fahren, der Chauffeur, der sie zum Waldorf Astoria bringt, wo sie einen Brief aus Prag übersetzt. Ob, wie von Arthur angedeutet, noch anderes in dieser Suite geschieht, lässt Johnson im Unklaren: „Es war ein Ausflug. Es war lustig. Es war sonderbar. Es waren Überstunden, ohne Bezahlung.“

„We were very merry“ – mit der South Ferry nach Staten Island
(10. und 16. September)

„Sonnabend ist der Tag der South Ferry. Der Tag der South Ferry gilt als wahrgenommen, wenn Marie mittags die Abfahrt zur Battery ankündigt.“ Von der Südspitze Manhattans erreicht man mit orangenfarbenen Fährbooten Staten Island und den Midland Beach. Näher kann man dem Stand von Rande in New York wohl nicht kommen und wenn Marie zum Aufbruch bläst, vergisst ihre Mutter – eigentlich unvorstellbar – sogar den Kauf der Zeitung.

South Ferry Anleger, Foto: Don Ramey Logan, CC BY 4.0

Marie hat sich New York über diese Fähren angeeignet, die sie bereits bei der Ankunft im „Hochhauskaktus“ bewundert hat: „Die South Ferry war ihr erster Wunsch an New York“ – eine Stadt, in der sie als Vierjährige nicht hatte sein wollen, gegen die sie sich genauso gewehrt hatte wie gegen die fremde Sprache und neue Freundschaften. Doch das schwimmende Haus faszinierte sie, die Straße zwischen Wohnort und Strand, bei der sie sich keinen Abschied einhandeln musste. „Und an den Drehkreuzen der South Ferry durfte sie zum ersten Mal in der Stadt selbst eine Fahrt bezahlen; hier war sie unter die Bürger der Stadt aufgenommen worden.“

Während die Mutter Zeitung liest, pflegt die zehnjährige Marie an Bord ihre Rituale, vom Fahrzeugdeck wandert sie zum Schuhputzer und hört die neuesten Nachrichten zu Konzessionen an Bord, sie beobachtet die Reisenden und hütet sich zugleich vor Gesprächen mit Fremden. Das französische Wort für Flur kennt sie, vor Uniformen ergreift sie die Flucht. Nur unbeobachtet verhält sie sich so, wie sie mag. Eine Expertin für Schiffe ist sie in New York auch geworden, auf der Rückfahrt erklärt sie der Mutter „die Schiffe, die im düsteren Neben vor den Narrows liegen“.

Hin und her fahren die zwei immer wieder, so wie in Edna St. Vincent Millays Gedicht hin- und hergefahren wird, das die Woche beschließt. Dessen Klang malt diese Bewegungen nach, das Wiegen der Fähre ebenso wie das des Erinnerns:

„We were very tired, we were very merry—
We had gone back and forth all night on the ferry.
It was bare and bright, and smelled like a stable—
But we looked into a fire, we leaned across a table,
We lay on a hill-top underneath the moon;
And the whistles kept blowing, and the dawn came soon.“

„Recuerdo“, Erinnerung lautet der Titel des Gedichts aus dem Jahr 1922 als St. Vincent Millay in Greenwich Village lebte. Ein Jahr später wurde die erst 25jährige mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Vieles spricht dafür, dass Johnson ein Gedicht, dessen Titel auf das zentrale Thema der „Jahrestage“ verweist,  nicht nur wegen der ersten beiden Zeilen seines Stadtführers mit seinem Roman verwob. In „Recuerdo“ geschieht für Gesine Cresspahl ungeheuerliches, denn „And bought a morning paper, which neither of us read“ heißt es gegen Ende.

Recuerdo (aus A Few Figs From Thistles, 1922) gelesen von Edna St. Vincent Millay:

 

Literatur

Uwe Johnson, Gesine Cresspahl liest die New York Times, in: Merkur 24 (1970), Heft 267, S. 659-668.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Alf Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9-63.

Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993.

Zu Lüdtke s. Thomas Lindenberger, Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 02.09.2014

Edna St. Vincent Millay auf poetryfoundation.org

Edna St. Vincent Millay, Collected Poems, New York 2011.

Thomas Wild, Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftstel­ler um Hannah Arendt, Berlin 2009.


5 Lesermeinungen

  1. kathrin28 sagt:

    Titel eingeben
    Dank an Fr.Förster dafür, dass sie den Roman, den ich vor vielen Jahren gelesen habe, mit ihren Reflexionen so lebendig in Erinnerung ruft. Macht Lust, ihn wieder zu lesen.

  2. Leserin sagt:

    Titel eingeben
    Habe den Blog wieder mit allergrößtem Vergnügen gelesen!
    Vielen Dank an die kluge Autorin!

  3. Dominic E. Delarue sagt:

    Papenbrock ist Anhänger der DNVP
    Im ersten Absatz ist Ihnen leider ein nicht ganz unwesentlicher Fehler passiert. Albert Papenbrock ist Anhänger der Deutschantionalen Volkspartei, vgl. Kleines Adressbuch, S. 197. Dort auch einer der Belege im Roman, etwa S. 366. Sein jüngerer Sohn Horst ist jedoch bereit vor der Machtergreifung bekennender Nazi, aus einer Art Auflehnung gegen die Familie.

    • birtefoerster sagt:

      Sie haben vollkommen recht, vielen Dank für den Hinweis, ich verbessere das. Ich habe tatsächlich Vater und Sohn verwechselt.

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