Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

13. Lesung: Das Vergangene ist nicht tot

| 4 Lesermeinungen

„Ich mag nicht was nun folgt“, sagt Marie zur Taufgeschichte ihrer Mutter und bittet sie: „Kannst Du es nicht ändern?“ Dialogisch entspinnt sich nicht nur die Bewertung des vergangenen Geschehens in Jerichow, auch muss Gesine Cresspahl mit ihrer Mutter in dieser Woche ein Gespräch führen. Dreizehnte Wochenlektüre.

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Darum geht es in diesem Blog

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Jetzt halten wir die jährliche Rede auf deinen Tod.“ (12. November 1967)

Eine Rede auf den Tod der eigenen Mutter zu halten ist auch so schon schwer genug. Sich zu einer jährlichen Rede verpflichtet zu fühlen und das seit 29 Jahren, angefangen als nicht einmal Sechsjährige, kann wohl nur mit der Abwehr gegen den Erinnerungsanspruch – „Immer willst Du gedacht werden“ – einhergehen. „Es ist genug ohne dich“, so Gesine Cresspahl im Dialog mit ihrer Mutter Lisbeth, und doch ist die Tote im Denken der Tochter so fest verankert, dass sie ihrer gegen den eigenen Willen gedenkt. Auch wenn sie sagt „Es kommt auf den Tag nicht an“ und damit das Ordnungsprinzip der Jahrestage auf den Kopf stellt, muss sie ihre jährliche Rede doch halten, zwar 1967 nicht am Todes-, aber doch am Geburtstag der Mutter, die an diesem Tag einundsechzig Jahre alt geworden wäre.

© Karin SchaderUwe Johnson, Bronzestele von Wieland Förster vor dem John Brinckman Gymnasium in Güstrow.

Erst am 15. Februar 1968 werden die Leser*innen über die Umstände des Todes von Lisbeth Cresspahl aufgeklärt, doch schon jetzt deutet sich an: Die frömmelnde Lisbeth Cresspahl ist freiwillig aus dem Leben geschieden. Die Tochter spottet über ihre Auferstehungshoffnungen.

So zu leben, gefiel Dir nicht, und Du gingst weg. Dachtest, du kämest wohin? (Wir wissen, du hieltest eine Auskunft für möglich, wenn auch nicht mehr eine Begrüßung.) Wie war es denn?

Nur widerwillig erinnert sich Gesine an ihre Mutter, an die Kränkungen, an das Nichtverzeihenkönnen. Und doch unternimmt sie eine gedankliche Reise an den Ort, an dem die tote Mutter nicht mehr zu sehen ist, eine Passage, die semantisch wie rhythmisch an die Todesfuge von Paul Celan angelehnt ist. Das Erinnern an die tote Mutter und jenes an die Opfer der Shoah überlagern sich, so der Literaturwissenschaftler Holger Helbig. Dafür spricht auch das Todesdatum der Mutter, die in der Nacht vom neunten auf den zehnten November 1938 stirbt.

Du sollst Deinen Willen haben. Wir machen die Reise. Wir träumen das Flugzeug, wir träumen den Flug, wir reisen in der Nacht, wir hängen in der Luft, wir steigen um an einem Ort, wir müssen weiter durch die Zeit, umso undurchdringlicher als vergangener. Jetzt sind wir, wo Du warst

Da wo du tot bist, sehen wir Dich nicht.“

Mit zurück nach New York darf die Mutter allerdings nicht kommen, die Erinnerung an sie hängt allein von Gesine Cresspahls Willen ab. Oder zumindest redet sie sich das ein. Auch wenn sie das Ordnungsprinzip der Jahrestage scheinbar unterwandert, lässt sie die Mutter nicht los. Seit 29 Jahren nicht.

Johnson-Lektüren

 

Der Tochter die eigene Geschichte erzählen (15. November 1967)

Marie Cresspahl ist empört über die Taufe ihrer Mutter am 19. März 1933. Habe denn ein englisches Kind getauft werden müssen, fragt sie? Und überhaupt: Gesine soll die Geschichte „anders erzählen“. Psalm 71, Vers 6 – „du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen“ – mag sie nur auf Englisch hören und kommentiert dann halb empört, halb lachend: „Mord und Totschlag!“ Die Unterhaltung kreist um Heinrich Cresspahls Motivation, das Spiel seiner Frau mitzuspielen, die Tochter doch Gesine Lisbeth zu nennen, nur um Dr. Semig als Taufpaten durchsetzen zu können. Der ist nämlich entgegen der Annahme von ganz Jerichow gar kein Jude, sondern Christ, schon sein Großvater hatte sich taufen lassen. Der Konflikt, den Cresspahl damit heraufbeschwört, wird ihn zum Bleiben veranlassen, meint Marie.

„– Das soll ich ändern?

– Du sollst es anders erzählen.

– Wir werden es ein wenig anders hinstellen.“

Doch viel an der Geschichte zu ändern gibt es nicht, denn Maries Ausruf „Warum reiste er nicht ab!“ kann ihre Mutter zwar verstehen, aber die gewünschten Antworten hat sie nicht bereit. Sie kann die Zeitläufte ihrer Familie nicht ändern, nicht die Konventionen der Zeit, in der ein Mann nicht einfach seine neugeborene Tochter mit auf die Heimreise nach England nehmen konnte.

Lisbeth Cresspahl hatte ihren Mann Heinrich vor eine unmögliche Wahl gestellt – mit ihr, mit seinem Kind würde er nur in Deutschland leben können. Marie kann es noch immer nicht verstehen, warum er seine Frau nicht gezwungen hat, warum er feige war und nicht wissen wollte, „wozu sie notfalls imstande war“. „– Mehr ändern kann ich es nicht“, entgegnet darauf ihre Mutter.

„Ursachen dürfen in der Geschichtswissenschaft, wie auch überall sonst, nicht postuliert werden. Man muss sie suchen“ – so endet Marc Blochs „Apologie der Geschichtswissenschaft“ (1941/42). Und so suchen Marie und ihre Mutter erzählend und fragend nach dem Grund für Heinrich Cresspahls Entschluss, England den Rücken zu kehren.

 

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Literatur:

Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, hg. v. Petter Schöttler, Vorwort v. Jacques Le Goff, Stuttgart 2002.

Holger Helbig, Naive Lektüre und Kanonformation. Über den wichtigsten Satz in Jahrestag, in: Johnson-Jahrbuch 22 (2015), S. 215–234.

Thomas Schmidt, Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses, Göttingen 2000 (Johnson Studien 4).


4 Lesermeinungen

  1. Bernhard Schneider sagt:

    Das Vergangene ist nicht tot...
    Christa Wolf: Kindheitsmuster

    „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd“.

    „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören.“

    Diesen Blog habe ich erst heute entdeckt.

    Schön, dass er sich einem Schriftsteller widmet, dessen gedankliche und sprachliche Dichte immer wieder zu erneuter Lektüre anregen.

    • birtefoerster sagt:

      Ja, das hat Christa Wolf von Faulkner, den auch Johnson sehr verehrte. Sein Besuch bei Faulkner war allerdings etwas unergiebig.

  2. Walker P. sagt:

    Das Vergangene ist nicht tot...
    Christa Wolf: Kindheitsmuster

    „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd“.

    „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören.“

    Erst heute habe ich diesen Blog entdeckt.

    Schön, dass Sie sich einem Schriftsteller widmen, dessen gedankliche und sprachliche Dichte immer wieder zu neuer Lektüre anregen.

  3. Sammelmappe sagt:

    der Wunsch, die Geschichte anders zu erzählen
    Der Wunsch, die Geschichte anders zu erzählen, ist mir so berührend bekannt.

    Wahrscheinlich, die erste bewusste Reaktion in meiner Kindheit auf die Erfahrung, dass es eine schreckliche große Geschichte gibt, die in ihrer Schrecklichkeit kaum zu verstehen ist. Von meinem Leben aber ferngehalten durch den strickten Grenzzaun der Vergangenheit. Der Zeit vor meiner Geburt.

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