Die Dow Company verteidigt an der New York University den Einsatz vom Napalm, und das Russell-Tribunal befindet die Vereinigten Staaten des Völkermordes für schuldig. Gesine bekommt Post aus ihrer Vergangenheit, spricht der Tochter Erinnerungen aufs Band, und die findet sich in der New Yorker U-Bahn trotz Fahrplanwechsels bestens zurecht. Fünfzehnte Wochenlektüre.
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Napalm-Diskussionen und das Russell-Tribunal (28. November und 2. Dezember 1967)
Am 27. November 1967 verteidigt der Pressedirektor von Dow Chemicals vor Studierenden der New York University Produktion und Einsatz von Napalm in Vietnam. Da der Krieg gerechtfertigt sei, sei es diese Waffe auch, so Dean Wakefield. Napalm werde in Kampfhandlungen mit dem Feind eingesetzt und sei damit auch nicht verwerflicher als andere Waffen. Zudem könne die Armee den Kampfstoff auch selbst herstellen. Die New York Times erklärt was Napalm ist.

Nach den Krupps gefragt, den weltberühmten deutschen Waffenfabrikanten, nennt Wakefield sie „bad people“. „Auf die Frage, woher er die Maßstäbe beziehe, mittels derer er moralische Urteile über geschäftliche Unternehmungen fälle, antwortet Mr. Wakefield: Aus der Geschichte. ‚Aus der Geschichte.‘“ Gesine Cresspahl kauft nichts mehr von Dow Chemicals, aber damit ist es nicht getan. Was ist mit den Infrastrukturen des Kriegstransports wie Eisenbahn und Fluggesellschaften, mit Steuern? „Wo ist die moralische Schweiz, in die wir emigrieren können?“ – fragen sich Gesine Cresspahl und Genosse Schriftsteller.
Der in Roskilde veröffentlichte Abschlussbericht des Russell-Tribunals gab darauf vielleicht die zivilgesellschaftliche Antwort einer Instanz des organisierten Gewissens. Das vom pazifistischen Philosophen Bertrand Russell 1966 ins Leben gerufene, international besetzte Tribunal untersuchte und dokumentierte 1967 die Kriegsverbrechen der Vereinigten Staaten in Vietnam seit 1954. Dazu befragte es unter anderem Zeug*innen aus Vietnam und den Vereinigten Staaten, trug Berichte über zivile Opfer, die Behandlung von Kriegsgefangenen und die Spätfolgen von Napalm zusammen. Am 1. Dezember 1967 befand es die Vereinigten Staaten „des Völkermords, des Einsatzes verbotener Waffen, der Mißhandlung und Tötung von Gefangenen, Gewaltanwendung gegen Gefangene, Verbringung von Gefangenen, weiterhin der Aggression auch gegen Laos und Kambodscha“ für schuldig. Die Berichte wurden veröffentlicht, auf Deutsch erschienen sie im Rowohlt Verlag.

Als Präsident des Tribunals amtierte Jean-Paul Sartre, der sich aus Protest gegen den Vietnamkrieg einer Reise in die Vereinigten Staaten verweigerte und verkündet hatte: Jeder „Ausländer, der in die U.S.A. reist oder dort lebt“, mache sich zu einem „Mitschuldigen“. In diese Kategorie fiel auch Uwe Johnson, der die Frage des Mitschuldigwerdens durch Reisen in Sartres Feld zurückspielt. Der Genosse Schriftsteller informiert uns an dieser Stelle darüber, dass Sartre 1933 die um siebzig Prozent verbilligten Fahrscheine der italienischen Staatseisenbahn für eine Ferienreise in Anspruch genommen und sich im Gegenzug die Ausstellung der faschistischen Revolution in Rom angesehen habe, um die „Bedingung für den Erwerb der Fahrkarte zu erfüllen“. Zu sehen waren unter anderem „Revolver und Gummiknüppel ‚faschistischer Märtyrer‘“. Im Herbst des Jahres 1933 ging Sartre für ein Jahr an das Institut français nach Berlin, wo er sich mit Heidegger, Husserl und seinem Roman „Der Ekel“ beschäftigte. Mit Politik weniger.
Marie in der U-Bahn (26. November 1967)
„Marie ist seit dem frühen Vormittag unterwegs, um die neuen Codes und Linienführungen wenigstens in Manhattan nachzuprüfen.“ Das gewitzte Mädchen durchschaut die Restrukturierung der Linien mit neuen Umsteigebahnhöfen, umbenannten Zügen und veränderter Streckenführung. Das alles teilt sie von unterwegs mit, denn Johnson flicht in die Beschreibung des U-Bahnverkehrs, der ganz und gar nicht westdeutschen Vorurteilen entspricht, die Beziehung von Mutter und Tochter ein. Das U-Bahn-Fahren erweist sich keinesfalls als unangenehmes Gedränge, man kann im Gegenteil sogar die New York Times dabei lesen, und für Kinder machen die Fahrgäste Platz: „Ein Hoch auf die Subway von New York.“ Die Reisenden sind auch nicht in furchtbarer Eile, im Gegenteil. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel kommt vielmehr einer Übung im social engineering gleich, „Geduld und Disziplin“ sowie Pünktlichkeit markieren das Verhalten der Fahrgäste.

Ein Vorurteil aber gibt es, „das wirklicher im Gefühl sitzt, und heißt: Die Subway sei nicht gut für Kinder ohne Begleitung“. Als Marie zwei Jahre zuvor auf eigene Faust von Manhattan nach Flushing in Queens gefahren ist, ohne ihrer Mutter Bescheid zu geben, „haben wir uns auf einen Streit eingelassen“. Die Tochter ist beleidigt, wenn ihre Mutter Bedenken hat, denn sie kann Drogensüchtige und Betrunkene erkennen und kennt die Sicherheitsmaßnahmen: Sie steigt in keinen Wagen mit nur drei Passagieren und hält sich in der Nähe des Polizisten auf, wenn einer die Fahrt begleitet. Ihre Mutter macht sich dennoch Sorgen:
„Sie sieht nicht aus, als könne sie sich nicht wehren. Das will sie nicht wahrhaben, und noch wenn sie in verabredeten Abständen pünktlich zuhause anruft, will sie nicht etwa den Warnungen ein Recht bestätigen sondern mit unendlichem Mitleid eingehen auf Flausen, die überängstliche Erwachsene nicht von sich tun können.“
Die Anrufe sind das verlässliche Band, an dem Marie allein in New York unterwegs ist. Strahlend bringt sie den aktuellen U-Bahn-Plan mit. Den alten der Union Dime Savings Bank mit den Sehenswürdigkeiten und der South Ferry faltet sie sorgsam „zum Aufheben“. Ihre Mutter aber würde es manchmal „vorziehen, sie nähme schlicht und einfach Verbote an“, wenn es um ihre Sicherheit geht.
Ein Brief aus der Deutschen Demokratischen Republik (28. November 1967)
Am 20. August 1967 hatte sich Gesine Cresspahl in Jerichow erkundigt, ob es vor 1933 jüdische Kurgäste in Rande gegeben hatte, und deren Anzahl wissen wollen. Nun erhält sie Nachricht aus dem „Seebad der Werktätigen“, doch der Gemeindevorstand nutzt das Schreiben nicht zur Auskunft, sondern dazu, die Adressatin zu maßregeln. Für ihr „ungesetzliches Verlassen des Territoriums“ der DDR, weil sie sich nicht polizeilich abgemeldet hat. Die Daten aus der Zeit vor ihrer Geburt kann sie nur anfragen, um sie manipulieren zu wollen. Obwohl der Kreis Gneez ohnehin solche Daten nicht an Privatpersonen herausgibt, fahren die Briefautoren großes Geschütz auf, wenn sie erklären, warum diese Zahlen keinen Hinweis auf Antisemitismus in der DDR geben könnten.
„Unser Augenmerk gilt der Tatsache der Verwandlung dieser gewissen Daten bei einfach-gesellschaftskritischer Betrachtung auch für das nicht marxistisch-leninistisch geschulte Auge in tatsächliche Vorgänge unter Beteiligung und Mitwirkung wirklicher Menschen. Es bedürfte also keiner sonderlichen Anstrengung, und wäre mit einer bestimmten grundsätzlichen Wahrscheinlichkeit versehen, daß ein Feind unseres Staates den Versuch unternimmt, mit einer Manipulation gewisser in einem gewissen Sinne tatsächlicher Daten den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei jenen Menschen, die in den Jahren nach dem Jahr 1933 durch aktives Handeln oder durch Unterlassung eine Einflussnahme auf die Zahl der Badegäste jüdischer Religion ausübten, und jenen Menschen, die heute Seite an Seite die bisher höchste Lebensform, den Sozialismus aufbauen, um die selben Menschen.“

Aber in der DDR gebe es keinen latenten Antisemitismus, so die Unterzeichner des Briefes. Auch wenn die vom Faschismus Verführten sich durch die Erkenntnis der „Bestimmung des Bewußtseins durch das Sein“ geläutert hätten, könnten sie keine wichtigen Positionen im Staate und der Partei bekleiden, Minderheiten jeder Art würden in der DDR gleich behandelt, wie sich besonders am „Abwehrkampf“ gegen „den rassistischen, suprematistischen und kolonialistischen Zionismus“ zeige. Zahlen von Badegästen jedenfalls bekommt Gesine Cresspahl nicht, dafür aber die Aufforderung, als DDR-Bürgerin für den Frieden einzustehen.
Der Tochter vom toten Vater und sich selbst erzählen (29. November 1967)
Ende November zeichnet Gesine Cresspahl ihre Erinnerungen zum ersten Mal für die Tochter auf Tonband auf: „für wenn ich tot bin“. Es war ein Wunsch Maries, und so erzählt die Mutter von der eigenen Kindheit, von Marie im Kindergartenalter und auch von Jakob Abs, Maries Vater, der noch vor ihrer Geburt verunglückt, er wurde auf dem Weg zur Arbeit von einer Rangierlok erfasst. „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“ beginnt Uwe Johnson dialogisch den Roman, in dem Abs die Hauptfigur spielt, denn die Umstände seines Todes bleiben im Unklaren.
Gesine Cresspahls Erzählung für die Tochter handelt vom Tod: Da ist die Mutter, die „etwas mit sich gemacht hat“, und da ist der Geliebte, der gestorben war, „als er noch nicht einmal das Wort sterben ordentlich denken konnte“. Von Maries Vater weiß sie „nur das Notwendigste“, wie aus einem Lebenslauf zitiert sie seine Fakten: „Handballspieler, Sozialist, Untermieter“. Wenn sie sich an Satzfragmente Jakobs erinnert, hat sie Angst davor, dass ihr Gedächtnis sie trügen könnte und selbst Sätze an den einen tatsächlich erinnerten anfügt, ihr so ein Gespräch unterjubelt, „bei dem ich gar nicht dabei war“. Mehr als an das Gesagte erinnert sie sich an den Klang seiner Stimme, „wie Jakob sprach“. Ein Menschenfreund soll Maries Vater gewesen sein, der noch mit dem gnatzigsten Menschen umzugehen wusste und gut konnte mit alten Frauen und Katzen.
Die Aufzeichnung ist auch deshalb „für wenn ich tot bin“, weil Gesine Cresspahl von ihrem Schmerz über den Verlust des geliebten Jakob Abs erzählt, denn: „Mit mir konnte er wie ich mit Niemandem.“ Sie will wohl auch ihr Verhältnis zu Dietrich Erichson erklären, ihr Zögern, wenn es um ein gemeinsames Leben mit diesem neuen Mann geht.
„Wenn ich, Marie, hör zu.
Wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, könnte sein Tod mich schmerzen. Ich will diesen Schmerz nicht noch einmal. Ich kann es mir also nicht leisten, mich auf jemand einzulassen.“
Nur bei einer Person geht das, denn diese „Bestimmung wird nicht angewandt auf ein Kind namens Marie Cresspahl“.
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Literatur:
Marc Frey, Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, 9. durchges. Aufl. München 2010.
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob, Frankfurt a. M. 1992 (EA 1959).
Bertrand Russell, Jean-Paul Sartre (Hrsg.), Das Vietnam-Tribunal oder Die Verurteilung Amerikas, 2 Bände, Reinbek b. Hamburg 1969.