Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

17. Lesung: Geglückte Republikflucht

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Mit dem gefälschten Pass eines belgischen Juden ist einem jungen Ostdeutschen die Flucht aus der DDR geglückt. Gesine Cresspahl hat den Pass in New York besorgt, ihre Freundin Anita Gantlik die Flucht organisiert. Uwe Johnson führte 1964 für ein Buchprojekt Interviews mit Fluchthelfern, seine Erkenntnisse verarbeitete er auch in „Jahrestage“. Siebzehnte Wochenlektüre

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Darum geht es in diesem Blog

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Der Junge, „den ihr aus Ostdeutschland holen wollt“ (18. Oktober und 14. Dezember 1967)

Im Oktober 1967 besorgt Gesine Cresspahl einen belgischen Pass für einen jungen Ostdeutschen. Ein Amerikaner wird ihn in Berlin ihrer Schulfreundin Anita Gantlik übergeben, die seit dem Mauerbau in Berlin als Fluchthelferin tätig ist. Der zwanzigjährige Enkel ihrer Nachbarn, jüdischer Emigranten aus Belgien, gibt seinen Pass her. Henri J. Faure „macht mit, aus Gründen, die er für politisch hält“, seine Großeltern denken, es geschehe „der Judenheit zuliebe“. Für die Flucht wird ein Pass mit jüdischer Religionszugehörigkeit benötigt, um die Ausreise überhaupt zu ermöglichen und reibungslos über die Bühne gehen zu lassen, denn der Fluchtwillige hat wohl wegen seiner Kritik an der anti-israelischen Propaganda der DDR Probleme:

„Möchte es nur in der Tat so sein, daß euer Neunzehnjähriger die anti-israelische Propaganda der D.D.R. nach dem Junikrieg nicht aushielt und sich verquatschte, daß er aus der Fachschule flog und nun der Sicherheitsdienst ihn auf dem Kieker hat. So jemand muß raus, und sei es, damit er sich wundert.“

Nur dafür mag Cresspahl „Oma Faure“ überhaupt um Hilfe bitten. Damit die Flucht gelingen kann, fügt sie dem Brief an ihre Freundin Informationen über das Laubhüttenfest Sukkot ein, denn der Flüchtende musste sich die Identität des Passbesitzers aneignen. Außerdem legt sie den Lebenslauf Henri R. Faures und ein Buch über die Upper Westside dazu, damit der namenlos Bleibende „den Kontrolloffizieren zur Not“ von den Besuchen bei seinen Großeltern erzählen kann. Sie ist erleichtert, dass der Pass rechtzeitig zum 15. November 1967 wieder zurück in New York ist, und froh über den „Bedankmichbrief“ des nach Kanada Geflüchteten an Henri R. Faure.

„Nun sind die alten Faures überzeugt, daß sie keinem Unfug aufgesessen sind. Und Henri hat seinen Paß um und um gewendet und fand keine Spuren und konnte nicht begreifen, daß so ein kleines Ding das Billet sein kann für den Austritt aus einem Lande, das solche Austritte aber nicht will.“

Johnson fügt diese Episode an dem Tag ein, an dem 1967 das Laubhüttenfest beginnt. Das Fest erinnert an den Auszug aus Ägypten und damit auch an Flucht – eine Verbindung, die Gesine Cresspahl auch benennt, wenn sie die Fluchthilfe ihrer Freundin als „Überführung aus dem Lande Ägypten“ bezeichnet.

 

Uwe Johnson und die Fluchthilfe (Eine Kneipe geht verloren, Begleitumstände)

Nicht nur durch die eigene Ausreise 1959 und die seiner Mutter drei Jahre zuvor war die Republikflucht ein wichtiges Thema für Uwe Johnson. Als auch seiner späteren Frau Elisabeth mit der Girrmann-Gruppe 1962 die Flucht „aus der verschlossenen und verriegelten D.D.R.“ gelang, entstand ein Buchprojekt über die Fluchthilfe. Dazu interviewte Johnson 1964 die Gruppenmitglieder Detlef Girrmann, Dieter Thieme und Bodo Köhler. Er war auch dabei, als die Fluchthelfer die Geflüchteten über den Grenzübertritt befragten, um für künftige Aktionen möglichst genaue Informationen über Passkontrollen und Befragungen zu bekommen. Ihr Verzicht auf einen Lohn machte die Gruppe zum „Gegenstand einer Neugier“ Johnsons, dazu „ihre Auffassung von Anstand“, denn die „vertrug sich mit keinem Versuch einer öffentlichen Würdigung“. Das Buchprojekt scheiterte, weil der akribisch arbeitende Johnson die Lücken seiner Dokumentation nicht zu schließen vermochte: Die „Verjährung des Gedächtnisses“ stand seiner Arbeit im Weg.

Seine Recherchen flossen 1965 in die Erzählung „Eine Kneipe geht verloren“ ein, in der eine Studentin die Wirtschaft ihres verstorbenen Onkels übernimmt. Die Kneipe dient wenig später als Organisationsort für Fluchthilfe. Die Studentin weist Ähnlichkeiten mit der in altorientalischer Archäologie promovierenden Anita Gantlik auf, denn sie blättert in „den Handbüchern einer wenig verbreiteten Wissenschaft“ und ist wie Anita rothaarig. Johnson beschreibt drei Verfahren der Fluchthilfe. Zunächst gelang noch die Flucht mit Westberliner Ausweispapieren, die sich die Fluchthelfer*innen von einer ähnlich aussehenden Person liehen. In „Eine Kneipe“ holten zwei Personen die Fluchtwillige ab und passierten mit ihr gemeinsam die Ausweiskontrolle. Erfolgreich: Der „Posten nahm ihr den fremden Ausweis nur aus der einen Hand, um ihr den gleich in die andere zu stecken, ermüdet von der lückenlosen Reihe der Leute, die auf den Ausfahrtsbahnsteig zustrebten“. Wie Marion Detjen in ihrem Buch „Ein Loch in der Mauer“ berichtet, war dieses Verfahren jedoch ab dem 23. August 1961 versperrt, da Westberliner nicht mehr einfach nach Ostberlin reisen konnten.

Nach dem Abkommen von 1963 eingeführte Passierscheine

Ein zweites Verfahren war es, mit einem Tagespassierschein einzureisen und diesen bei der Ausreise mit dem Hinweis zu behalten, man wolle am selben Tag noch einmal zurückkehren „zu einer öffentlichen Veranstaltung, Theater, Kino, Oper, nicht aber zu privaten Adressen, damit eine Nachprüfung erschwert war“. Kuriere schmuggelten diese Passierscheine dann zurück und übergaben den Flüchtenden auch Informationen über die zu passierenden Kontrollpunkte. Die Kuriere nahmen dabei ein hohes Risiko auf sich, so Detjen. Deshalb wurden bevorzugt Ausländer*innen eingesetzt, die durften sich nämlich auch nach 24 Uhr in Ostberlin aufhalten und hatten keine Leibesvisitation zu erwarten. Nach der Flucht befragten Thieme und Girrmann Kuriere und Flüchtende genau, um die Hintergrundgeschichte zu verbessern und möglichen Verhören vorzubeugen. Ab Ende September 1961 wurden die Passierscheine allerdings eingesammelt, und auch dieser Fluchtweg war versperrt.

Schließlich wurden – wie auch in den „Jahrestagen“ geschildert – westliche Pässe von Bürgern anderer Staaten als der Kontrollmächte Vereinigte Staaten, Großbritannien und Frankreich verwendet. Ein riskantes Verfahren, denn man musste wissen, wo man als Ausländer aus einem Drittstaat ausreisen konnte, brauchte mehr Mitwissende, womit das Risiko aufzufliegen wuchs. Es war zudem aufwendig, denn „das vorgetäuschte westliche Vorleben der Passagiere musste inzwischen verlängert und vervollständigt werden mit kostspieligen Kleidungsstücken, Gebrauchsgegenständen und allerhand“. Mit einem Buch über die Upper Westside war es lange nicht getan, Gesine Cresspahl hat den Auftrag, den Pass eines französischsprachigen Juden ausfindig zu machen, weil der betreffende Fluchtwillige in der Lage war, eine solche Identität anzunehmen. Laut Detjen war auch dieser Fluchtweg ab dem 6. Januar 1962 nicht mehr möglich, da Ausländer bei der Einreise nun registriert wurden. Wie es 1967 gelang, dies zu umgehen, erfahren wir in den „Jahrestagen“ leider nicht.

Bahnhof Friedrichstraße, Westberliner*innen bei der Einreise nach Ostberlin, Ostern 1965, ADN

 

Wem hilft man da eigentlich? (18. Oktober 1967, Eine Kneipe geht verloren)

Als die Kneipenwirtin und ihre beiden Kompagnons der jungen Maggy zur Flucht aus Ostberlin verhelfen, hat diese keinen blassen Schimmer, welches hohe Risiko ihre beiden Helfer eingegangen sind. Die Wirtin „hätte der Göre gern den Kopf zurechtgesetzt“, weil sie mit der eigenen Angst hausieren geht und zudem „mit dem Wort Freiheit albert“. Achselzuckend liefern die Helfer Maggy bei ihren Verwandten ab. Im Interview mit Girrmann hatte Johnson erfahren, dass auch den Fluchthelfern klar war, sie würden „gute Bundesbürger“ und keine Systemkritiker in den Westen bringen, allerdings wollte er weiterhin allen Fluchtwilligen helfen, unabhängig von deren Motiven

Gesine Cresspahl hingegen wünscht sich politische Motive für die Ausreise, keine persönlichen, und bilanziert mit einer gewissen Bitterkeit die nach der Flucht zerbrochenen Liebesbeziehungen: „Erinnerst du dich an den Lyriker aus München, der dir die Schürze vollgeheult hat? zwei Monate nachdem das bestellte Mädchen übergeben war, schmiß er es weg.“ „Verblödet durch Mitleid“ will sie nicht mehr sein, wenn sie New Yorker Bekanntschaften um Pässe angehen soll.

Die Zahlen zur Einordnung der von Johnson geschilderten Fälle findet man in Hedwig Richters Buch „Die DDR“. Von 1961 bis 1988 gelang mehr als 200 000 Menschen die Flucht aus der DDR. 416 000 verließen auf legalem Weg das Land, fast 34 000 wurden von der Bundesrepublik aus Gefängnissen freigekauft, gegen 75 000 hatte die DDR Verfahren wegen Republikflucht angestrengt.

 

Die Interviews, die Uwe Johnson mit den Fluchthelfern Detlef Girrmann und Dieter Thieme geführt hat, sind auf der Seite des Suhrkamp-Verlages zugänglich.

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Literatur

Marion Detjen, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989, München 2005.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Uwe Johnson, Eine Kneipe geht verloren (1965), in: ders., Ich wollte keine Frage auslassen haben, Gespräche mit Fluchthelfern, hg. von Burkhart Veigel, Frankfurt a. M. 2010, S. 203–234, zuerst veröffentlicht in Kursbuch 1/1965.

Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1992 (EA 1986), S. 255–265.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl« (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.

Hedwig Richter, Die DDR, Paderborn u. a. 2009.


1 Lesermeinung

  1. Gast sagt:

    Mit Googles Hilfe quasi auf Anhieb
    das Deutschlandfunk Interview mit Herrn Girrmann gefunden, man ist doch immer froh wenn man die Leute auch einmal persönlich sprechen gehört hat. Und nicht nur immer gegen Geld auf Verlage und Gedrucktes angewiesen ist, wenn auch Gedrucktes für alte Leute noch eine gewissen Sexappeal hat. Schade dass man Richard Wagner, Friedrich Nietzsche oder Arthur Schopenhauer nicht im Deutschlandfunk-Interview hat, oder in Selbstzeugnissen auf YouTube. Grundsätzlich wird ja sofort und laufen nebenbei jede Zeitungslektüre mit Google ausgewertet, überprüft und ins weltweite und Bedeutsame überführt. Das geht ja heute schon lange gar nicht mehr anders.

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