Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

21. Lesung: Ein Fehler ihrer Eitelkeit

| 2 Lesermeinungen

In New York steht Annie Fleury mit ihren drei Kindern vor der Tür, sie hat ihren Mann vorerst verlassen. In Jerichow muss Lisbeth Cresspahl vor Gericht aussagen und versteht nicht, dass nationalsozialistische Justiz kein Recht im religiösen Sinn sprechen wird. Und Marie fällt ein vorläufiges Urteil über ihre mecklenburgische Verwandtschaft. Einundzwanzigste Lektürewoche.

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Darum geht es in diesem Blog

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„Verheiratet leben, du kennst es ja nicht“ (8., 12. und 13. Januar 1968)

Am 8. Januar 1968 steht Annie Fleury, geborene Killainen mit ihren drei kleinen Kindern vor Gesine und Marie Cresspahls Tür und bittet um Asyl. Sie hat ihren Mann verlassen, der mit ihr „leben wollte wie zu den Zeiten Thoreaus“, also entsagend im Wald, wobei Fleury vor allem auf dem Land leben wollte, während Annie die Entsagung zufiel.

Die Überreste von Henry Thoreaus Hütte am Walden Pond in Concorde, Massachusetts, 1957

„Das wird ihn hart ankommen, allein zu sitzen in einem knackenden Haus im Schnee an den Bergen, alleingelassen von einer Annie, die länger als vier Jahre an der Herstellung eines Lebens auf dem Lande gearbeitet hat, mit drei Kindern und ehrwürdig splittrigen Dielen, die seine Schreibkraft war, seine Sekretärin und die Bewunderin seines Genies als Übersetzer des Französischen“.

Der Grund der Trennung ist, so Annie, ihr Engagement gegen den Vietnamkrieg, schon bei Gesines und Maries Besuch im Oktober 1967  war der ‚Hausherr’ deshalb ausfallend gegen Gesine geworden. Aber Gesine Cresspahl traut dem Braten nicht, für ihren Geschmack nehmen sich Annies Gründe zu groß aus für eine Ehekrise. Sie glaubt zunächst, einige Wochen Abwesenheit der Freundin würden den Ehemann zur Vernunft bringen und der werde seine Frau bitten, zu ihm zurückzukehren. Vorerst bleiben die vier Fleurys also bei den Cresspahls, und Marie „kommt gern aus mit der großen Familie“, die eigene kennt sie ja nur aus den Erzählungen ihrer Mutter.

Im Kopf aber ficht Gesine eine Diskussion mit den Stimmen bereits Verstorbener aus, die man schon vom 22. Oktober 1967 kennt. Es macht ihr Sorgen, dass Annie nach fünf Jahren Ehe ihren Mann verlassen hat, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Sie misstraut Annies politischem Engagement, das sie, einmal in New York angekommen, nicht wieder aufnimmt. Zugleich beneidet sie Annie um ihren Mut, sich vom Ehemann auf Familienfeiern dafür demütigen zu lassen, dass sie „die Politik des Präsidenten gegen Viet Nam mörderisch genannt“ hat. Anders als in der ersten Diskussionsrunde mit den Stimmen ihrer Vergangenheit hat Gesine Cresspahl deren Vorwürfen wenig entgegenzusetzen:

Einer Lebenden, einer Annie Killainen mißtraust du.
Ich möchte anders können.
Und kannst nicht, weil du dich kennst.
Nicht, weil ich mich habe lügen merken, ohne es zu wollen. Weil ich meinem Vertrauen nicht traue.
Und nun soll Annie weitermachen, was sie angefangen hat, nur damit sie zu Deiner Vorstellung von Konsequenz paßt? Was du nicht selbst hast an Folgerichtigkeit, sie soll es leben.
Ich mache ihr keine Vorschriften.
Und doch sitzt du da mit dem Unbehagen in der leeren Wohnung und wartest, daß sie zurückkommt und hat nichts gegen den Krieg getan?
Ja.“

Annie bringt derweil die Wohnung auf Vordermann, spielt weiter die Ehefrau, putzt und schrubbt und macht Frühstück für Gesine, die so zu einem Ersatzehemann avanciert. Konsequenz ist nicht nur für Gesine ein schwieriges Thema. Vielleicht ist es gut, dass Marie an diesem Samstag auf dem Ausflug mit der South Ferry besteht und so die Spannung löst. Sie macht Annies Kinder zudem mit dem U-Bahnfahren und allen Einzelheiten des Übersetzens nach Staten Island vertraut. So können die Freundinnen im kältesten Winter seit 1917 doch wieder mit Edna St Vincent Millays Verszeilen „We were very merry“ von der South Ferry zurück nach Manhattan spazieren.

Aktuelle Anlegestelle der South Ferry in Manhattan

 

Lisbeth Cresspahl als Zeugin (9., 11. und 13. Januar 1937)

Im Sommer 1937 wird Lisbeth Cresspahl auf einer Zugfahrt Zeugin eines Gesprächs zwischen dem Landarbeiter Warning und dem Forstaufseher Hagemeister, „etwas über den Umgang eines hochgestellten Parteigenossen mit einem jüdischen Tierarzt, vor der Ergreifung der Macht“. Von diesem Gespräch erzählt sie ihrem Bruder Horst Papenbrock, der die Geschichte auf dem Jerichower Marktplatz in Gegenwart seines Bruders weiterträgt. Robert Papenbrock, seit 1935 allem Anschein nach bei der Gestapo tätig, bringt die Angelegenheit zur Anzeige. Grundlage ist das am 1. Januar 1935 in Kraft getretene „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“, das unter anderem „unwahre oder gröblich entstellte“ Behauptungen gegen die NSDAP unter Strafe stellte. Am 6. September 1937 erhält Lisbeth Cresspahl eine Vorladung als Zeugin beim Amtsgericht in Gneez für ein Verfahren wegen „Verunglimpfung eines nationalsozialistischen Amtsträgers“.

Lisbeth Cresspahl scheint nicht zu begreifen, dass sie mit ihrer Aussage die beiden Angeklagten wegen einer Nichtigkeit in Gefahr bringt, denn beide haben mit mindestens drei Monaten Haft zu rechnen.

„Lisbeth war nicht davon abzubringen, daß sie es gehört hatte. Sie hatte gehört: Hagemeister sagte: Und sieh dir solche an wie Griem. Da hatte Warning gesagt: Früher hatte er ganz dicke Brühe mit Semig, konntest Du gar nicht umrühren. Jetzt ist Griem Oberfeldmeister oder sonstwas beim Reichsarbeitsdienst.“

Stadtkirche Kluetz, Vorbild für die Jerichower Petrikirche

Halb Jerichow bemüht sich nun darum, Lisbeth davon abzubringen, vor Gericht auszusagen: Die Familien der Angeklagten bitten, Anwalt Kollmorgen weist auf das Zeugnisverweigerungsrecht hin, Albert Papenbrock schreit seine Tochter an, aber die bleibt eisern. Einzig Pastor Brüshaver macht Fortschritte, aber den Ausschlag gibt Louise Papenbrock, denn „sie fühlte sich zu wichtig in der Gelegenheit“ und bringt ihre Tochter dazu, den Prozess als Bewährungsprobe gemäß der Tageslosung des Mecklenburgischen Christlichen Hauskalenders, Römerbrief 5, Vers 1–5 zu sehen, in der es eigentlich darum geht, durch den Glauben gerecht geworden zu sein. Hält die Mutter es für eine absolute Christenpflicht, nicht zu lügen? Die Sache liegt komplizierter. Louises falsch verstandener Frömmigkeit geht es nicht um Wahrheit, sondern bei ihr ist das Leiden zentral: „wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt“ (Vers 3). Davon überzeugt sie auch ihre Tochter. So wiederholt und erneuert Lisbeth die Denunziation ihres Bruders Horst, obwohl sie es nicht müsste. Heinrich Cresspahl ist wütend darüber, dass Lisbeth so bedrängt wird, aber hilflos, seine Frau wohl eher störrisch als konsequent zu nennen. Sie ist nicht in der Lage, die Folgen ihres Handelns außerhalb des frömmelnden Kodexes zu beurteilen, den ihre Mutter ihr vorgibt.

Dabei bringt Lisbeth auch Arthur Semig, den Taufpaten ihrer Tochter, in Gefahr: Der Tierarzt wird im September 1937 verhaftet. Der neu bestellte Wachtmeister Alfred Fretwust (hochdeutsch: Frisswurst!) nimmt ihm bei Haftantritt das Eiserne Kreuz ab. Damit ausgezeichnet worden zu sein hatte ihm trotz des sogenannten Frontkämpferprivilegs schon 1933 nichts genützt, der Raub des Ehrenzeichens war aber eine weitere Form der vielen Demütigungen, welche die Semigs seit 1933 zu erdulden hatten.

Die Ostsee bei Boltenhagen, dem Vorbild für Rande

Kurz nach Semigs Verhaftung begeht Lisbeth Cresspahl einen zweiten Selbstmordversuch, vielleicht um so dem Druck und dem Prozess zu entgegen. Sie fährt ins Ostseeband Rande und schwimmt weit in die Lübecker Buch hinaus. Weil ein ausfahrender Fischer namens Stalbom ihre Badekappe entdeckt, wird sie gerettet, und Cresspahl versucht, den erneuten Suizidversuch zu vertuschen, indem er für den Verdienstausfall des Fischers aufkommt. Am nächsten Morgen bezeichnet Lisbeth die Badekappe als Fehler ihrer Eitelkeit. Ein Gespräch über die Geschehnisse findet nicht statt, aber Heinrich Cresspahl versucht, seine Frau zu warnen:

Dau dat nich noch eins, Lisbeth!
Ne, Cresspahl. Dat dau ick nich noch eins. Nich so.“

Ihrer Tochter Marie verschweigt Gesine Cresspahl vorerst die Tat ihrer Mutter genauso wie die genaueren Umstände von Semigs Haft.

 

„Helden mit dem Maul“ – Maries Urteil über Jerichow (6. und 7. Januar 1968)

Als Marie und Gesine Cresspahl sonntags am Hudson spazieren gehen und nach Hoboken am gegenüberliegenden Ufer in New Jersey blicken, wo Gesines 1935 nach Deutschland zurückgekehrter Onkel Robert Papenbrock auf seinen abenteuerlichen Reisen angeblich ein Fuhrgeschäft aufgekauft hat, erzählt Marie ihre Sicht auf die mecklenburgische Verwandtschaft. An ihrem Großonkel Robert lässt sie kein gutes Haar:

„Mrs. Cresspahl ist traurig, daß ihre ganze Familie sich eingelassen hat mit den Leuten, die damals in Mecklenburg an der Macht waren (und in Deutschland, ich weiß). Bei denen hat jener ‚Robert Papenbrock‘ […], nicht einmal angefangen mit kleiner Arbeit, groß eingestiegen ist er!“

Marie Cresspahl im Film „Jahrestage“

Den weniger Gebildeten in Jerichow sieht Marie ihre Beteiligung am Nationalsozialismus eher nach als Akademikern, diesen „Helden mit dem Maul“. Mit Albert Papenbrock hat Marie Mitleid, weil er seines Königreiches in Jerichow wie in der Familie verlustig gegangen sei, über Louise Papenbrock will sie nichts sagen. Ihre Großmutter Lisbeth hat sie immer entschuldigt, weil sie die Mutter ihrer Mutter ist. Hätte sie doch nur einen „Schädelschrumpfer“, wie sie wörtlich „shrink“ übersetzt, und damit eine professionelle Begleitung ihrer psychischen Erkrankung gehabt, stellt das Mädchen nicht zu Unrecht fest: „Sie wäre nicht mehr in ihre Kirche eingesperrt, sie könnte sie von außen sehen.“ Ihren Großvater Heinrich Cresspahl aber versteht sie einfach nicht: Er kennt die Schrecken des Ersten Weltkrieges, weiß von Bajonettattacken und Gasangriffen, er hat im Ausland gelebt, er hat ein Kind und bleibt trotzdem im nationalsozialistischen Deutschland. Wenn es anders gekommen wäre, dann hätten Jakob und Marie Abs 1945 an einer anderen Türschwelle um Obdach gebeten, antwortet ihre Mutter. Was sie nur zwischen den Zeilen sagt, ist: Dann hätten dein Vater Jakob und ich uns nicht kennenlernen können.

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Literatur

Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen, in: RGBl. 1934, 20. Dezember 1934, S. 1269–71.

Wolfgang Benz, Geschichte des Nationalsozialismus, München 2000, S. 127–150.

Bormuth, Matthias: Der Suizid als Passionsgeschichte. Zum Fall der Lisbeth Cresspahl in den Jahrestagen, Bd. 12, S. 175-196.

Christian Elben, Ausgeschriebene Schrift. Uwe Johnsons „Jahrestage“: Erinnern und Erzählen im Zeichen des Traumas, Göttingen 2002 (Johnson Studien 5), S. 100–110.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl« (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012

Paasch-Beeck, Rainer: Bißchen viel Kirche, Marie? Bibelrezeption in Uwe Johnsons Jahrestage, in: Johnson-Jahrbuch 4 (1997), S. 72-114.


2 Lesermeinungen

  1. Stefan SPEYER sagt:

    Fehler in der Datierung
    Der Text enthält im Mittelteil eine Fehldatierung, denn während dort durchgehend von 1937 die Rede ist, gibt es dann – im Realis – einen Rückfall auf 1933. Das kann nicht zutreffend sein, sondern eher ein Versehen. Ich werde nachschauen !

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