Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

25. Lesung: „Damit du nicht raten musst“

| 2 Lesermeinungen

Ein Leichenschmaus wird zum heimlichen Treffen der Sozialdemokraten in Lübeck, Lisbeth Cresspahls Verhalten wird zunehmend erratischer und bedrohlicher, und in New York trifft Gesine Cresspahl Vorkehrungen dafür, der Tochter nicht unverständlich zu bleiben. Fünfundzwanzigste Wochenlektüre.

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Darum geht es in diesem Blog

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Eine hergeliehene Beerdigung in Lübeck (4. Februar 1968)

Heinrich Cresspahl fährt im Oktober 1938 auf Einladung Erwin Plaths allein zur Beerdigung jener Frau, bei der er bei seinem Besuch im März 1933 hatte verweilen dürfen, als er unfreiwillig zum Kurier des sozialdemokratischen Widerstands geworden war. Die Verstorbene hatte Cresspahl an seine Mutter Berta erinnert und ihm „eine Seescholle, in sehr wenig Butter gebraten“. Anna Niederdahl hätte es wohl nur durch Zufälligkeit in ein Geschichtsbuch geschafft. Delinquent hätte sie sein müssen oder in Registern von Armenhäusern erscheinen, damit Spuren für die nachgeborenen Historiker*innen von ihr geblieben wären. In Johnsons Roman aber hat sie einen Platz, in der momenthaften Erinnerung Heinrich Cresspahls an ihre „ängstliche, fürsorgliche Art“ wie in der Dankbarkeit Erwin Plaths und auch in der bemühten Rede des professionellen Trauerredners, der versucht, ihr „Leben zu erzählen“:

„Ein Fischerkind aus Niendorf. Eine Fischerfrau aus Niendorf. Der Mann als Krüppel von der Marine entlassen, der die Frau mit Gärtnerei in Lübeck unterhalten hatte. Ein Sohn auf See geblieben, eine Tochter in Hamburg verschollen, die andere ‚Verfolgungen des Schicksals‘ ausgesetzt.“

Niendorf, der Geburtsort von Anna Niederdahl, Strandpromenade um 1900

Erwin Plath, der den Leichenschmaus ausrichtet, erzählt das Leben anders:

„Tante Anna. Vegætn ward’t nich. Du nich und wat du dån hest. Denn bedanken wi uns nu, Tante Anna.“

Das ist würdig und recht, möchte man ergänzen, denn Anna Niederdahl oder besser: ihre Tochter hat „den Tod ihrer Mutter hergeliehen“ für ein heimliches Treffen untergetauchter Sozialdemokraten. Erneut haben sie über eine mögliche Zusammenarbeit mit den Kommunisten abzustimmen, zu der die Stockholmer SAP aufgerufen, die der Pariser Exilvorstand der SPD aber abgelehnt hatte. Erneut stimmen sie dagegen, obwohl ihre Reihen sich auf brutale Weise gelichtet haben, denn dem ehemaligen Vorsitzenden „hatten die Nazis im Konzentrationslager Fuhlsbüttel den nackten Schädel eingeschlagen“. Cresspahl, obwohl nicht mehr Parteimitglied, freundlich aufgenommen, bietet Geld und verspricht Reisen nach Dänemark, außerdem berichtet er vom Flugplatz in Nord-Jerichow. Unterschlupf kann er nicht gewähren – wegen seines neuen Nachbarn Friedrich Jansen, der nun endlich in einer Villa residiert, wenn auch nicht der Semigschen. Zu Peter Wulff soll er öffentlich den Kontakt abbrechen, Bienmüller aber beschaffen, was er „benötige“ – beides ohne Angaben von Gründen. Cresspahls ehemalige Genossen nehmen ihm seine lockere und witzige Art ab, schreiben sie gar Lisbeth zu und versöhnen sich so selbst mit seiner Ehe mit der reichen Kornhändlerstochter.

Die hatte ihren Mann nicht begleitet, weil es keine kirchliche Beerdigung gab, obwohl sie schon längst mit Aggie Brüshaver ihr Outfit für den Tag geplant hatte. Um den Haussegen vorerst zu retten, schimpft ihr Mann sogar auf die „verluderten Engländer“. Die fünfjährige Gesine hat ihn betrübt an den Bahnhof gebracht und beschützend seine Hand gehalten und noch auf den Bahnsteig gestanden, „als der Zug längst hinter der Ziegelei war“.

Von Jerichow (Klütz) gelangte man über Gneez (wohl Grevesmühlen) nach Lübeck

Ihrem Vater hatte sie zuvor ein Versprechen abgenommen:

Kümmst du to mi, wenn du trüch büst.
Un wenn’t nu midden in de 
Nacht ist?
Bruks mi niks mitbringen. Oewe kümms?
Ick kåm, Gesine. Ick kåm.

Der Vater aber bleibt über Nacht in Lübeck, sein Kind wartet vergebens. „Das Abziehpapier, das er ihr mitgebracht hatte, konnte sie nicht trösten.“

 

Die „Angestellte Cresspahl“ (5. und 7. Februar 1968)

Als „die Angestellte Cresspahl“, wie Uwe Johnson seine Hauptfigur in beruflichen Szenen gerne nennt, das erste Mal dem Vizepräsidenten ihrer Bank de Rosny begegnet, lügt sie ihm etwas vor von „Füchsen, die einander bei Beidendorf gute Nacht sagen“, und bestätigt seine Vorstellungen „von einem kommunistischen Land im allgemeinen, und von Mecklenburg im allgemeinen“. Dort wähnt de Rosny, der so redet wie einer, der keinen Widerspruch gewohnt ist, Wölfe. Streikt die Müllabfuhr, sieht er seine mecklenburgische Angestellte im Müll versinken und bedauert sie, denn er weiß ja nicht, wie sie tatsächlich wohnt. Sein Büro ist ein edel eingerichteter Salon, und dahin zitiert er sie nun. Er hat nämlich „die Erschießung durch den Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan im Fernsehen betrachtet und will sich nun endlich bekehrt haben zu der Meinung von Mrs. Cresspahl.“ Die hat aber „keine Meinung gesagt“, und so entwickelt sich kein wirkliches Gespräch über den Vietnamkrieg, denn de Rosny „ist nicht gesonnen, die Führung eines Gesprächs aufzugeben“.

„Was wollte Mrs. Cresspahl sagen?“

Die wollte de Rosny darüber informieren, dass Dimitri Weiszand sie über ihre mögliche neue Tätigkeit bei der Bank ausgehorcht hatte. Was genau dies sein wird, wissen die Leser*innen noch nicht. Nur, dass sie tschechisch lernt und das Finanzsystem der ČSSR auswendig hersagen kann, ein Aufenthalt in dem Land also wahrscheinlich ist. Ihr Chef muss dann zugeben, vom Aushorchen gewusst zu haben, und die Angestellte hält ihm eine Standpauke, „so gut sie das im Sitzen kann: sie verbitte sich, daß man sie überwache!“ Trotzdem will sie das Angebot einer Beförderung annehmen, dasjenige von D. E. – „Kündige da. Nimm das Kind und leb bei mir“ – schlägt sie aus.

Kurz nach der Vereidigung von Präsident Ludvík Svoboda am 30. März 1968 im Hof des Prager Schlosses verkündete Alexander Dubček (links) sein Reformprogramm

In der „Sozialistischen Č.S.R.“ zu arbeiten ist nicht ungefährlich, schon am 21. August 1967 ist von der Ermordung des für das American Jewish Joint Distribution Committee tätigen Mr. Jordan die Rede. Deshalb will die Angestellte Cresspahl ihre Beweggründe, diese Arbeit anzunehmen, für ihre Tochter Marie festhalten, aber nicht auf dem Tonband „für wenn ich tot bin“, sondern als Brief, den Marie erst 1976 öffnen darf, sie wäre dann fast 19 Jahre alt. Das Tonband hätte die Tochter „zu früh abgehört, und ich kann schwer das benommene und verständige Gesicht aushalten, das du aufsetzt, wenn du etwas nicht verstehst“. Die auf Gedeih und Verderb an das eine Elternteil gebundene Tochter soll aber im Falle des Todes ihrer Mutter später trotzdem verstehen können. „Damit du nicht raten musst, wie ich.“

Dass die Regierung der ČSSR bemüht ist, den Mord an Jordan aufzuklären, wertet Gesine als Zeichen einer Entwicklung hin zum Rechtsstaat:

es könnte ja ein Sozialismus anfangen, mit einer in Kraft gesetzten Verfassung, mit der Freiheit zu reden, zu reisen, über die Verwendung der Produktionsmittel zu bestimmen, auch für den Einzelnen. […] Dorogaja Marija, es könnte doch ein Anfang sein. Für den würde ich arbeiten, aus freien Stücken.“

Für den würde sie auch sich in Gefahr bringen, und so wirbt sie bei ihrer Tochter vielleicht postum um Verständnis.

 

Von Kino und aufgezwungener Endura (6. und 8. Februar 1968)

Im Oktober 1938 ist Lisbeth Cresspahls Zustand unverändert. Auf die Anforderungen, die Cresspahls Kriegsvorbereitungen an sie stellen, reagiert sie beleidigt, beim Einkaufen in Lübeck ist sie erst einmal beschwingt.

In Lübeck fand Lisbeth Cresspahl keine Hinweise auf den Krieg, den ihr Mann befürchtete. Straßenpartie vor dem Hauptbahnhof

Jedoch:

„Es gab andere Tage. Tage, an denen sie schon müde anfing. Dann mochte sie nicht in die Geschäfte kommen, konnte eine halbe Stunde versitzen in der Bahnhofsgaststätte von Lübeck und ließ sich dann von den Einkäufen noch abhalten durch ein Filmplakat.“

Ins Kino geht Lisbeth – sie hat die Wahl zwischen deutschen Melodramen, Lustspielen oder Clark Gable –, weil sie sich betäuben will, so wie es ihre Tochter später nach der Ankunft in New York tun wird. Ihr Mann hält es für ein Vergnügen, die erwarteten Vorwürfe gegenüber ihren Fluchtversuchen bleiben aus. „So lange sie ihn glauben ließ, daß sie keine Geheimnisse vor ihm hatte, war er fast unbesorgt.“

Diesen Film könnte Lisbeth Cresspahl im Oktober 1938 in Lübeck gesehen haben. Clark Gable und Joan Crawford in „Ich tanze nur für Dich“ (Vereinigte Staaten 1933; Regie: Robert Z. Leonard).

Ein Geheimnis aber hat sie vor ihrem Mann: Sie lässt ihr Kind hungern. Das Frühstück verweigert sie ihrer Tochter, beim Mittagessen teil sie der Fünfjährigen die Portion zu, vom Abendessen erfahren wir wenig. Es ist, als übertrage sie das märtyrerhafte Hungerfasten auf ihre Tochter, und das praktiziert sie ein Jahr lang vor den Augen des Vaters, des Arztes, der Angestellten und der Tante, die beim Osterbesuch zwar beobachtet, dass Gesine sich an Vorräten in die Tasche steckt, aber nichts dazu sagt. Als sie sich an unreifen Äpfeln den Magen verdirbt, fällt das nicht auf; als Dr. Berling ein „mageres Wesen, das seit einem halben Jahr nicht gewachsen schien“, zu untersuchen hat, greift er nicht ein. Erst als sein Mitarbeiter denkt, die Katze knabbere seine Stullen an, erkennt Heinrich Cresspahl, wer die Brote anbeißt:

„nun stand sie an seinem Schrank und mümmelte vorsichtig an seinem Brot, so ängstlich vor Entdeckung, daß sie nach jedem Brocken das Pergament mit beiden Händen wieder zusammendrückte. Sie war damals nicht viel mehr als 100 Zentimeter groß, und erschrak sehr, als sie unverhofft an Cresspahl emporsah. Sie streckte ihm das Päckchen hin, das für ihre Finger zu ungefüge war, und sagte feige […]: Ick wull dat nich daun.“

Da Lisbeth das Gespräch verweigert, sich selbst als Hungernde darstellt, bestraft Cresspahl sie mit Schweigen. Fortan nimmt er seine Tochter mit zu Einkaufstouren, beim Essen sitzt sie neben ihm auf dem Platz der Mutter. „Er genierte sich sehr, wenn er dem Kind das Brot hinhielt und einen schamlos dankbaren Blick zum Lohn bekam.“ Er entzieht sie der Mutter nicht nur, weil er seine Tochter gern in seiner Nähe hat: „später gab er sich Rachsucht zu“. Um die psychische Erkrankung seiner Frau kümmert er sich noch immer nicht, stattdessen bleibt die Katze offizielle Übeltäterin. Marie aber soll zwar nicht raten müssen, aber der Erinnerung an das eigene Hungern setzt Gesine Cresspahl ihre Tochter nicht aus. Lisbeth Cresspahl dankt ihr im imaginären Zwiegespräch dafür und hofft , die Tochter könne es ihr nun vergessen.

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Literatur:

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl« (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.

 


2 Lesermeinungen

  1. Dieter sagt:

    Kleine Unkorrektheit
    Guten Abend frau Förster,

    in der Einleitung steht Leichenschmaus in „Lüneburg“.
    Der fand aber in Lübeck statt, wie im Blog dann auch genannt.

    Beste Grüsse

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