Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

26. Lesung: Von Demütigung, Gewalt und Beschämung

| 2 Lesermeinungen

Die Novemberpogrome in Gneez und Jerichow bedeuten Zerstörung, Demütigung und den Mord an einem kleinen Mädchen, für den es keine Rechenschaft geben wird. In New York gestaltet die Macht der Scham Francines Aufenthalt bei den Cresspahls für sie fast unerträglich, im vietnamesischen Huế finden Geflüchtete keine Sicherheit, während die Tet-Offensive tobt. Sechsundzwanzigste Wochenlektüre.

 

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Darum geht es in diesem Blog

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Pogrome in Gneez und Jerichow (14. und 15. Februar 1968)

© dpaBerlin, Novemberpogrom 1938, brennende Synagoge in der Prinzregentenstraße 69-70, Foto digital koloriert.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wird Lisbeth Cresspahl noch zweimal gesehen, und zwar an den Orten der Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung von Gneez und Jerichow. Mann und Tochter sind unterwegs zu den Gräbern von Cresspahls Eltern und zu seiner Schwester in Wendisch Burg und so fährt Lisbeth Cresspahl am 9. November nach Gneez, vielleicht ist sie auf dem Weg ins Kino. „Die Gneezer Synagoge stand seitlich der Horst-Wessel-Straße, die vom Capitol zum Bahnhof führte. Als Lisbeth da gesehen wurde, brannte das Gotteshaus schon im Dach“. Lisbeth wird Zeugin, wie die Kultgegenstände geraubt werden und wohl auch, wie der Gneezer Rabbiner Joseph Hirschfeld abgeführt wird. Die Feuerwehr kommt, doch sie bestreicht nur „gelegentlich die Kanten der Häuser neben dem brennenden mit Wasser“.

Als Lisbeth nachts nach Jerichow zurückkehrt, haben sich die dortige S. A. und Polizei unter Führung des Bürgermeisters Friedrich Jansen über Oskar Tannebaums Laden hergemacht. Detailliert breitet Johnson aus, wie die Gewalt gegen das Geschäft und die schon schlafende Familie eskaliert:

© dpaBerlin, Novemberpogrom 1938. Zerstörtes und geplündertes jüdisches Geschäft in Berlin. Foto, später koloriert

„Gastronom Prasemann legte einen Finger auf den Mund, und erst als es in der engen Straße fast still war, hob er die Axt und schlug damit ins Glas der Ladentür. Dann erholten sie sich in unterdrücktem Gelächter. Oskar Tannebaum machte noch immer nicht Licht. Nun schlugen sie sorgfältig die Tür in Stücke. […] Als die S. A. im Geschäft der Tannenbaums war, entdeckten sie, daß sie die Schaufensterscheibe vergessen hatten und warfen von innen mit Stühlen und Regalbrettern dagegen. In einem Tuchgeschäft ist nicht viel Hartes, und sie schafften es erst mit der Registrierkasse, die sich beim Fall aufs Pflaster öffnete.“

All dies geschieht vor Zuschauern, auch einigen kritischen, aber keiner greift ein; der Konkurrent des Ladenbesitzers freut sich: „der Jude sollte ein für allemal erzogen werden“.

© dpaKäthe Kollwitz, Pieta, (1937-1938), Gipsmodell

Der auf die Straße gestoßene Oskar Tannebaum wird nun gezwungen, sein Geld aufzusammeln und zu Bürgermeister Jansen zu tragen. Der hat zuvor darauf herumgetrampelt. Nach dieser Demütigung, der wieder alle zusehen, fallen zwei Schüsse, der zweite tötet die acht Jahre alte Marie Tannebaum. Frieda Tannebaum trägt die Tochter, „ein wildes verschlossenes Mädchen“ aus dem Haus, deren lange Zöpfe schleifen dabei über den Boden. Ihren Mann verständigt sie mit einem Blick. „Sie stellte sich wie Oskar mit dem Rücken zur Wand. Sie sahen sich über das Kind hinweg an.“ Dann sinkt sie zu Boden, „immer gehorsam mit dem Rücken zur Wand“. Gleich einer Pietà hält „sie ihr Kind noch wie eins, das bloß schläft und nicht aufwachen soll“.

Da schlägt Lisbeth Cresspahl, sie war zugegeben  seitdem das Geld auf der Straße lag, Friedrich Jansen ins Gesicht und zumindest der erste, unerwartete Schlag sitzt, doch gegen den großen Jansen ist so kein Ankommen. „Sie schlug wie ein Kind, ungeschickt, als hätte sie es nicht gelernt“. Der Polizist Ete Helms führt sie nur scheinbar ab, bringt sie aber zum Haus ihres Vaters, wo er sie anschließend wähnt. Doch bei Cresspahls Schwester in Wendisch Burg klingelt am 10. November 1938 frühmorgens das Telefon. „Meine Mutter war schon eine Stunde lang tot.“

Enggeführt wird dieser Bericht unter dem Datum des 14. November 1968 mit einer Nachricht aus der New York Times zum Darmstädter Babij Jar Prozess. Einer der Angeklagten fällt aus der Reihe, weil er vehement die ihm zugeeigneten Taten abstreitet und die Schuld auf einen Namensvetter abschiebt. Der Vorwurf lautet, es „sei seine Spezialität gewesen, kleine Kinder an den Beinen hochzuhalten, sie mit einer Pistole zu erschießen und in die den vorbereiteten Graben zu werfen“.

 

Die Macht der Scham (11. und 16. Februar 1968)

Als Jane Eyre in der Internatsschule Lowood vor den Argusaugen des Schulaufsehers Mr. Brocklehurst die Schiefertafel aus der Hand gleitet, wird sie auf einen Hocker gestellt und öffentlich als Lügnerin beschämt. Keine andere der Schülerinnen darf mit der Zehnjährigen sprechen, denn sie ist böse. Maries Freundin Francine benötigt als Auslöser ihrer Scham weder eine verbale Anklage noch eine Beschämungstechnik wie das „Podest der Schande“, auf das der Schulaufseher Jane Eyre in Charlotte Brontës Roman zwingt. Ihr reicht die Zeugenschaft der Cresspahls dafür aus, Scham zu empfinden, dieses „Gefühl von ungeheurer Wucht und Wirkmächtigkeit“ wie es die Historikerin Ute Frevert in ihrem Buch „Die Politik der Demütigung“ kürzlich beschrieb. Die „Macht und Gewalt des öffentlichen Blicks, eines Blicks der sich nicht abschütteln lässt“, mache die Beschämung aus und genau dies empfindet Francine.

© AP Photo/Ferd Kaufman, FileDie Little Rock Nine waren 1957 nach der offiziellen Aufhebung der Segregation die ersten afro-amerikanischen Schüler*innen an der Central High School in Little Rock, Arkansas. In die Schule gelangten sie nur mit Armeeschutz.

Nachdem ihre Mutter auf der Straße niedergestochen wurde, ist sie zu den Cresspahls gezogen und somit die erste afro-amerikanische Bewohnerin des Riverside Drive 243. Sie hat bei ihnen Zuflucht gesucht und nun ist sie bei ihnen fehl am Platz. Weil alles anders ist, als sie es gewohnt ist, weil ihr Anderssein sichtbar ist, wenn sie abends (wie bei Cresspahls üblich) duschen soll, wenn sie sich daran gewöhnen muss, mit Messer und Gabel zu essen, wenn sie Mikado nicht spielen kann. So ist sie ständig einem für sie beschämenden öffentlichen Blick der Hausgemeinschaft ausgesetzt und flieht davor, indem sie sich schlafend stellt oder aus dem Haus verschwindet. Beim widerwilligen Krankenhausbesuch stellt auch die eigene Mutter sie bloß, indem sie ihre Tochter „ein gutes Kind“ nennt. Francine schämt sich am Krankenbett der Mutter auch, weil Marie nun ihre Familienverhältnisse kennt. Die hat die Stipendiatin einer katholischen Privatschule vor der Klassenkameradin so gut es ging geheim gehalten.

„Jetzt hast du es gesehen, Marie.
Nichts habe ich gesehen. Eine kranke Frau.
Jetzt lügst du, Weiße.“

Ihre Scham ist so groß, dass sie sogar die Sorge um die Genesung ihrer Mutter und den Verbleib ihrer jüngeren Geschwister überwiegt. Sie lässt sich nicht überwinden, als Marie „ihr Messer weglegte und dann das Kotelett wie Francine mit der Gabelkante anging“, nimmt Francine auch das wahr.

Marie, die den weißen Mittelschichtsrassismus der 1960er Jahre, in dem sie aufwächst, verinnerlicht hat, obwohl ihre Mutter immer wieder dagegen argumentiert, hat sich in der Schule um Francines Fortkommen gekümmert und nun hat die Lehrerin sie auseinandergesetzt. Damit Francine sich nicht weiter auf Marie verlässt. Die sorgt sich nun erst recht um die Mitschülerin, die nicht auf dem Wissensstand der Klasse ist, und fragt sich, wie weit sie eingreifen darf in Francines Leben – hat sie es nicht längst getan und sich so schuldig gemacht? Ungewöhnlich unwirsch wirft Gesine Cresspahl ihrer Tochter Eifersucht vor, sagt ihr auf den Kopf zu, dass sie das Mädchen nicht möge. Doch Marie macht sich Gedanken darüber, wie Francine in ihr gewohntes Leben zurückkehren kann. „Was fängt sie da an mit unseren Gewohnheiten?“

 

Die Tante Zeitung übernimmt (17. Februar 1968)

Schon die ganze Woche über werden die Erzählebenen des Romans mit Nachrichten aus dem Krieg verschränkt. Doch nach der Erinnerung an den Tod der Mutter scheint Gesine Cresspahl eine Sendepause zu brauchen. Am 17. Februar übernimmt die Tante Zeitung und erzählt von den Kämpfen um die Kaiserstadt Huế, von der Lage der Geflüchteten, von Berichten über Gräuel der Vietcong und von einem deutschen Schriftsteller, der in Kuba das Bewusstsein tieferer Freude entdeckt haben will.

© AP Photo/Al ChangExplodierendes Napalm am Nordufer des Parfüm-Flusses am 16. Februar 1968 in Huế.

Die am 31. Januar 1968 begonnene Tet-Offensive hatte, so der Historiker Marc Frey, eine baldige Entscheidung des Krieges zugunsten der Vereinigten Staaten als Wunschvorstellung entlarvt. Sichtbar wurden die Verwüstungen der vietnamesischen Städte, nicht der angebliche Schutz für die dortige Bevölkerung. Besonders heftig wurde um die ehemalige Hauptstadt Vietnams, Huế, gekämpft. „Flüchtlinge finden keine Zuflucht in Hue“ steht am 17. Februar 1968 in der New York Times zu lesen, 16.000 Menschen haben in der Universität der Stadt Schutz gesucht, „ungefähr die Hälfte der neuen Flüchtlingsbevölkerung in dieser Stadt und nirgendwo ist Sicherheit in Sicht“. Scharfschützen töten Flüchtende, die das Gebäude verlassen wollen, Tränengas wird eingesetzt, nach jedem Angriff gibt es Verletzte. Nordvietnamesische Truppen hatten die Stadt überrannt, ein Massaker an der Zivilbevölkerung mit 2000 bis 6000 Opfern verübt. Die Rückeroberung der Stadt dauerte noch bis zum 24. Februar 1968 an, 100 000 Menschen mussten fliehen. Huế wurde vollständig zerstört.

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Literatur:

Ute Frevert, Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt 2017.

Marc Frey, Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, München 92010, S. 160-173,

Ulrich Fries, Uwe Johnsons  „Jahrestage“. Erzählstruktur und politische Subjektivität, Göttingen 1990.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.

Rainer Paasch-Beeck: Zwischen „Boykott“ und „Pogrom“. Die Verdrängung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der „Jahrestage“, in: Uwe Fries/Holger Helbig (Hrsg.), Uwe Johnson. Text + Kritik 65/66, München 2001, S. 119–134.


2 Lesermeinungen

  1. FAZ-Leser sagt:

    Titel eingeben
    Immer wieder fassungslos. Immer wieder Trauer, Entsetzen. Tränen. Warum haben die Deutschen das gemacht?

  2. Gast sagt:

    Eine Aneignung eine lange Aneignung immer noch
    und immer noch bleibt spannend, wie es ausgehen wird, auf welche Art und Weise den Leser und der Literaturwissenschaftler und Fachmann hinterher eher Fachexistenz sein wird, eine Zeitlang durchaus für alle, oder ins weltweite und Freie tritt: Es liegt eben viel Hermetik in Uwe J.; immer ein interessantes Experiment. Und zum Glück haben wir ja den postmodern Polyerspektivismus, es gibt sehr viele Ausgänge, überall ist die Erde eine Scheibe, und alle Scheiben sind gleichberechtigt. Nochmals vielen Dank also, dass Sie so intensiv für uns lesen und mit der Figur, den Figuren und dem Text mitfühlen. Text ist Zeit.

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