Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

28. Lesung: Ein Spion in Jerichow

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Wie kann man die Vergangenheit erzählen, wenn die Erinnerung nur schemenhaft ist, man Episoden nicht kennt und das Wahrscheinliche annehmen muss? Marie und Gesine Cresspahl ergründen, wie Heinrich Cresspahl zum englischen Spion wurde. Aggie Brüshaver verlässt Jerichow, der neue Pfarrer ist ein lupenreiner Nationalsozialist. Achtundzwanzigste Lektürewoche.

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Darum geht es in diesem Blog

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Vielleicht sind Gesine und Heinrich Cresspahl mit einem Eisenbahnfährschiff im November 1938 von Warnemünde ins dänische Gedser übergesetzt

Dänemark, vielleicht (26. und 27. Februar)

Nach der Beerdigung seiner Frau verlässt Heinrich Cresspahl mit seiner kleinen Tochter Jerichow und wohl auch Deutschland. Sechs Wochen lang sind sie fort, die erwachsene Gesine hat nur schemenhafte Erinnerungen an die Zeit, an kahle Zimmer, und ist auf spätere Informationen angewiesen, um ihrer Tochter die Geschichte zu erzählen. Möglicherweise sind sie von Warnemünde ins dänische Gedser übergesetzt. Auf der gemeinsamen Reise zwei Jahre zuvor hatte sie in Dänemark und England Erinnerungen an das Reisen, an Landschaften. Marie nennt es Déjà-vu, aber Gesine fürchtet „getäuschte Erinnerung“, denn „das früher Erlebte“ fehlt ihr. Marie ist überzeugt: Ihr Großvater wollte auswandern, wollte auf der Reise ausprobieren, „ob da ein Platz wäre für ihn“, doch Gesine sorgt sich, dass ihr Wunsch Vater des Gedankens, der Erinnerung ist.

„Wer sich das einbilden will, kann es glauben.
– Glaub es doch, Gesine.
– Es ist aber nicht zu beweisen.
– Lieber hätte ich einen Beweis dafür, warum Cresspahl zurückging nach Deutschland, nach Jerichow.
Ich weiß es nicht.“

Von Esbjerg ging es dann im Dezember 1938 wohl nach Harwich und London.

 

„Erzähl es mir! Erzähl es mir!“ (2. März 1968)

Ein Beleg für ein ausländisches Reiseziel könnte sein, dass Cresspahl nach seiner Rückkehr begann, für die britische Abwehr zu arbeiten. Für diese Geschichte hat Gesine Cresspahl sogar ein handfestes Indiz, eine Halfpenny-Münze aus dem Jahr 1940, die ihr nach dem Tod des Vaters aus Jerichow geschickt worden ist. „Warum hast Du mir das nicht früher erzählt!“ Empört fordert die Tochter die Erzählung einer Begebenheit, von der – wie Holger Helbig anmerkt – ihre Mutter nur weiß, „daß es sie gegeben haben muss“. Von dem Versicherungsbeamten, dem „Tennismann“ aus Hamburg, der Cresspahl im Februar aufsucht und der sein Auto so demonstrativ mitten in der Stadt parkt, dass die Jerichower darauf hereinfallen, erzählte der (Groß)Vater noch, doch wie es weiterging, weiß die Mutter nicht. Und so erzählt sie, wie sie es sich vorstellt, gemeinsam mit der Tochter erwägt sie die Möglichkeiten, die Motive der Akteure: Woher könnten sie sich kennen (von der Reise aus Dänemark oder England), vermutlich lässt Cresspahl sich nicht gleich überzeugen, sondern zieht Erkundigungen ein. Was könnte ihn überzeugt haben?

Hier gelangt die Erzählung dann doch an eine Quelle, einen Beleg. Denn Heinrich Cresspahl hat sich durch sein britisches Bankkonto, das er schon im Dezember 1933 in Deutschland hätte melden müssen, erpressbar gemacht. Sollte er auffliegen, drohen ihm zehn Jahre Zuchthaus. Cresspahl dachte wohl, das Konto sei zu diesem Zeitpunkt leer, er hatte für die Mutter seines Sohnes Henry Trowbridge einen Dauerauftrag eingerichtet. Weil die das Geld nicht annahm, wandte sich sein ehemaliger Anwalt wohl an den Tischlereibesitzer Gosling, und der „zeigte ihn einfach ins Blaue hinein an“. Gosling bekommt daraufhin Besuch von der britischen Regierung. Auch wenn es um die Suche nach der Wahrheit geht, kann sich die Erzählstimme hier eine gewisse Fabulierlust nicht verhehlen.

„Die Regierung war dargestellt von zwei finsteren Herren, von denen einer leise schnüffelte, als rieche es in Goslings Gegenwart nicht gut. Als sie gingen, war Albert A. Gosling, Esq., auf das ängstlichste entschlossen, die Sache mit dem Deutschen zu vergessen, und insbesondere das Geld, und mit einem heiligen Schwur das Geld.“

Wie es in Jerichow sicherlich nicht zuging, als der britische Spion Cresspahl aufsuchte: Daniel Ocko und George Raft in „Spion im Orientexpress“, USA 1943.

Ganz anders, nämlich protokollartig knapp, der Versuch, die Motive Heinrich Cresspahls zu verstehen, dem es – so meint die Tochter – recht war, erpresst zu werden, und der so den Briten die eigenen Motive nicht offenlegen musste, warum er Widerstand gegen die NS-Diktatur leisten wollte – wegen seiner Frau, des von Nazis zu Tode geprügelten Voss in Rande, wegen Brüshavers und eines möglichen Kriegs. Er riskiert sein Leben, weil er sich nicht zutraut, „ein Mädchen großzuziehen“. Einen finanziellen Vorteil hat er auch von der Zusammenarbeit mit dem Versicherungs-Spion, denn die Brandschutzversicherung zahlt und Cresspahl ist: „Erpreßt und gekauft und sicher.“

In der New York Times ist in dieser Woche vom Verdacht gegen Bundespräsident Heinrich Lübke zu lesen, als Mitarbeiter des Architekturbüros Schlempp Baupläne für Konzentrationslager unterzeichnet zu haben. Der Bundespräsident streitet die Vorwürfe ab. Die aus Ostberlin stammenden Belege waren tatsächlich gefälscht, Jens Christian Wagner, bis 2014 Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora, inzwischen Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, konnte 2001 jedoch belegen, dass Lübke federführend für den Bau von Zwangsarbeiterbaracken in Peenemünde verantwortlich war und KZ-Häftlinge aus Ravensbrück und Buchenwald von Schlempp in Peenemünde und an zwei weiteren Standorten zur Arbeit gezwungen wurden.

Marie wundert sich derweil darüber, dass eine Diktatur die Ausreise erlaubt. Ihre Mutter und Uwe Johnson erklären es so:

„Die Deutschen waren in der Mehrheit zufrieden mit Hitler und Genossen. Sie waren nicht verdächtig, gleich zu Millionen aus dem Land zu laufen.“

 

„Aggie ging aus freien Stücken“ (1. März 1968)

Nachdem Wilhelm Brüshaver im Zuchthaus seine Strafe verbüßt hat, „war ihm Schutzhaft in einem Konzentrationslager verordnet, von der ein Ende nicht abzusehen war“. Da dem Oberkirchenrat die „gleichberechtigte Begräbnisfeier“ für Lisbeth Cresspahl nicht gepasst hat, kann seine Frau von der Kirche keine Hilfe erwarten, diese hat ihren Mann nicht nur suspendiert, sondern auch entlassen, und so ist sie in Jerichow auf informelle Hilfe angewiesen.

In Rostock wohnt Aggie Brüshaver an der Jacobikirche. Hier zu sehen: Walter Hege bei Dreharbeiten zu ‚Auf den Spuren der Hanse‘, um 1930.

„Die illegale Kirchenleitung, der Landesbruderrat, hatte ihr einmal Geld zuwenden können“, die lokalen Adelsfamilien unterstützen sie mit Lebensmitteln, Axel von Rammin zeigt öffentlich seinen Austritt bei den Deutschen Christen an.

Aggie Brüshaver aber will sich ihr Leben nicht davon diktieren lassen, was ihr nicht passiert: Sie will sich nicht aus dem Pfarrhaus ausweisen lassen, nicht darauf hoffen müssen, dass jener Lehrer Stoffregen ihre Kinder weiterhin in Ruhe lässt, der zuvor Marie Tannebaum der Schule verwiesen hat. Sie verlässt Jerichow mit ihren drei Kindern, um in Rostock als Krankenschwester zu arbeiten, denn

„ihr wurde ein Gespräch auf offener Straße nicht verweigert und nicht ein Gruß. Aber die Besuche blieben aus, und Aggie merkte an gleichsam überraschten, fragenden Blicken, daß die Jerichower es lästig fanden, auf die Dauer zu ihr und Brüshaver zu halten.“

 

 

Kein guter Hirte (1. März 1968)

„Dann kam Wallschläger“ – ein nationalsozialistischer Pfarrer par excellence, für den das Blut beim Abendmahl „nicht das Blut alter Art war, sondern das der nationalsozialistischen Märtyrer bedeuten sollte“. Wallschläger predigt nicht das Christentum, er predigt Antisemitismus, ein „Verkünder der Freude, gerade mit Adolf Hitler zusammen und ein Christ zu sein“. Seine Verkündigung, die biblische wie die geschichtliche, erzählt von nichts anderem als von angeblichen Missetaten ‚der Juden‘. „Davon wollten die Jerichower aber nichts hören“, denn was den Tannebaums geschehen war, hatten sie auf „Auswärtige“ geschoben, mit Semig hatten sie sich arrangiert. „Das war ihre Sache, und ging einen hergelaufenen Jubelpastor nichts an.“

Der grüßt noch trauernde Angehörige „feurig Heil Hitler“, und so nehmen die Kirchenaustritte in Jerichow zu, der Küster Pauli Bastian kündigt und sitzt nun zuweilen als „ein Sachverständiger mit Bedenken, ein unabhängiger“, in der Kirche, so dass die Jerichower beinahe ihn für den besseren Pastor halten, „er dürfe nur eben den Mund nicht aufmachen“. Weil Wallschläger sich aber auch „um die eigene Rasse“ sorgt und von Cresspahl verlangt, dem Altgesellen Alwin Paap zu untersagen, seine Liebste Inge Schlegel mit in sein Giebelzimmer zu nehmen, macht er sich in Jerichow noch unbeliebter als zuvor. Der Altgeselle „war neuerdings nicht gesonnen, andere Leute in seine Sachen hineinreden zu lassen, schon gar nicht in den Termin einer Eheschließung.“ Wallschläger sorgt so nicht nur dafür, dass der schüchterne Alwin Paap über sich hinauswachsen kann, sondern auch für schleppend verlaufende „Naturallieferungen“ und „Barabgaben“ an sich selbst.

„Du måkst di: sagte Cresspahl“.

„Bißchen viel Kirche: sagt Marie.“

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Literatur:

Holger Helbig: In einem anderen Sinn Geschichte. Erzählen und Historie in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Johnson-Jahrbuch 2 (1995), S. 119-133.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.

Jens-Christian Wagner: Produktion des Todes – das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001.

Jens Christian Wagner: Die Kehrseite der Medaille. Zwangsarbeit für das Nationalsozialistische Raketenprogramm, in: Günter Jikeli/Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Raketen und Zwangsarbeit in Peenemünde, Schwerin 2014, S. 102-127.


2 Lesermeinungen

  1. Lisa sagt:

    Der Blog!
    Dieser Blog ist ganz wunderbar! Eine große Bereicherung! Vielen Dank, liebe Birte Förster!

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