Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

30. Lesung: Prager Frühling

In der Tschechoslowakei ist eine breite gesellschaftliche Debatte über die Zukunft des Landes im Gange, in Warschau wird auf Protestierende eingeprügelt, wie Gesine Cresspahl aus der New York Times erfährt. Mit den Bildern von „Nacht und Nebel“ konfrontiert, muss sie erkennen, dass ihre New Yorker Bekannten in ihr auch die Verbrechen der Shoah sehen. Ihr alleinerziehender Vater muss seine Tochter und sich selbst derweil in der NS-Diktatur vor unbedacht Erzähltem schützen. Dreißigste Lektürewoche.

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Darum geht es in diesem Blog

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Frühling in Prag und Warschau (10. bis 16. März 1968)

In der Tschechoslowakei ist eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft des Landes im Gange, das liest Gesine Cresspahl in der New York Times nun nahezu täglich. Ihr Blick auf die Welt wird im Roman auch durch die Auswahl der Zeitungsartikel markiert, und so wird in der dritten Märzwoche von den Diskussionen über jenen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ berichtet, auf den auch die Protagonistin hofft. „In Prag durfte einer im Radio sagen, es sollte die Zukunft der Nation von der gesamten Bevölkerung bestimmt werden, nicht nur von den Kommunisten.“ Bezirkskonferenzen der Kommunistischen Partei (KSČ) diskutieren die Zukunft von Präsident Antonín Novotný (1904-1975) beziehungsweise darüber, wie er „ohne die Mittel Stalins“ zum politischen Rückzug gezwungen werden könnte, in denen er „so firm war“. In meist geheimen, nicht wie üblich in öffentlichen Wahlakten hatte die Abstimmungen auf den Sitzungen darüber stattgefunden, und der Prager KSČ-Chef Martin Vaculik drängte Novotný öffentlich, „doch einmal die Bevölkerung selbst zu fragen, ob sie ihm denn vertraue“.

Rund 3000 Studenten marschierten am 10. März 1968 in Prag zum Grab von Jan Masaryk, um dessen 20. Todestag zu gedenken.

Die ČSSR sei im Frühling und Sommer 1968 „ein Land im Gespräch mit sich selbst“ gewesen, so der Historiker Norbert Frei. Reformer*innen aus ganz unterschiedlichen Bereichen hätten generationenübergreifend schon seit 1967 die Zukunft des Landes debattiert. Eine „Generationenkonkurrenz“ wie in Westdeutschland habe es gerade nicht gegeben. Am 10. März 1968 aber sind es vor allem Prager Studierende, die am Todestag des Außenministers Jan Masaryk (1886-1948) zu Tausenden zu dessen Grab ziehen, um den Forderungen nach einer Demokratisierung Nachdruck zu verleihen. Masaryk war 1948 im „dritten Prager Fenstersturz“ aus „einem Fenster seines Amtssitzes“ gesprungen „oder gestoßen worden“. Nachdem die Ermittlungen 1993 neu aufgenommen worden sind, geht die Polizei inzwischen von Mord aus.

Sogar juristisch zeitigt die Demokratisierungsbewegung Auswirkungen: Der Präsident des Obersten Gerichtshofs Josef Litura „bereitet sich darauf vor, den Mißbrauch der Justiz seit 1955 zu korrigieren. Es wird öffentlich ausgesprochen, daß Unschuldige im Gefängnis sitzen“, Litura kündigt ausdrücklich Rehabilitierungen an. Gesine Cresspahl sieht die Entwicklungen positiv, sie schreibt ihrem Lebensgefährten D. E.: „Die tschechoslowakische und sozialistische Sache, entgegen deinen Voraussagen, sie scheint zu laufen.“ Anders in ihrem Heimatland. Dort warnt ein Leitartikel des Neuen Deutschland am 13. März 1968 vor „spontaner Demokratisierung und Forderungen nach sozialpolitischen Veränderungen“.

Studenten demonstrieren am 08.03.1968 in Warschau gegen die Verhaftung ihrer Kommilitonen Adam Michnik und Henrik Szlajfer.

Auch in Warschau protestieren im März 1968 Studierende, allerdings unter ganz anderen Bedingungen. Eine für den 8. März geplante Protestkundgebung an der Warschauer Uni wurde abgesagt, die 4000 Protestierenden wurden von Arbeitermilizionären und Polizisten vom hoheitsrechtlich geschützten Universitätsgelände geprügelt, am 9. März verlangten 20.000 Demonstranten „mehr Demokratie, eine aufrichtige Presse und desgleichen“. Am 11. März zogen sie vor die Zentrale der Partei und lieferten sich eine achtstündige Straßenschlacht mit den Milizen. „Gestapo! – Gestapo! rufen die Studenten in Warschau der Miliz entgegen, die mit Knüppeln auf die einhaut.“ In Warschau bedeuteten die Proteste Gewalt und Verhaftung, hier läuft es nicht mit der sozialistischen Sache. Dennoch bleibt die Unruhe nicht auf die Hauptstadt beschränkt.

 

„Nacht und Nebel“ (10. März 1968)

Mit ihren irisch-griechischen Freunden Jim und Linda O’Driscoll geht Gesine Cresspahl in einen Filmclub, auf den Titel hat sie nicht geachtet, außerdem sind sie zu spät. Ohnehin verlegen, weil der Gastgeber Jim O’Driscoll die Shoah mit dem Umgang mit native americans verglichen und seinen Gast so zur Deutschen gemacht hat, „die versuchen soll, Himmler zu erklären“, ist sie mit den Bildern der Vernichtung in „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais (1955) konfrontiert. Den zweiten Film will sie danach nicht mehr sehen, allein geht sie durch die „nebeldicke“ Luft Brooklyns heim und denkt an das Gesehene zurück:

„Das Französische bestand in einer peinlichen Weise auf Eleganz. Die Bilder des Hungers, der Erniedrigung, Tote im elektrischen Zaun, das Kinderheim, die Gaskammer, die Verwertung der Reste durch die Industrie. Die nach dem Krieg gemachten Aufnahmen stark rötlich von den Ziegeln der Wände. Wieder das gefürchtete Bild mit der blanken breiten Pflugschar der Alliierten, die die Leiche im Grab in die Grube schiebt und schaufelt. Die Leichenfelder. Die Verbrennungsstapel.“

Das „gefürchtete Bild“ kennt Gesine aus der Fotodokumentation der Briten über Bergen-Belsen. Dass die Freunde „selbstverständlich, natürlich“ in ihr auch die „Verbrechen der Deutschen“ sehen, versucht sie zu akzeptieren.

 

Derweil in Jerichow: Als alleinerziehender Vater Spionage und Erziehungsarbeit verbinden (11., 12. und 15. März 1968)

Zuerst wirft Käthe Klupsch ein Auge auf den durch die Brandkasse gerüchteweise reich gewordenen Heinrich Cresspahl, dann hat der ungefähr zwei Jahre lang eine Haushälterin nach der nächsten, bis er nur noch eine Putzfrau anstellt und seine Tochter selbst erzieht. Das ist wegen seiner Spionagetätigkeit nicht ganz einfach, zumal Gesine nach der Schule zum Mittagessen nun in die Kantine des Flughafens kommt, dort auch ihre Hausaufgaben macht. Das erfordert besondere Erziehungsmaßnahmen, und so bringt Cresspahl seiner Tochter Folgendes bei:

„Was ich sehe, was ich höre, was ich weiß, es ist allein meines.
Auch wenn ich weiß, daß ein Name falsch ist, ein Wohnort nicht stimmt, muß ich bei dem Falschen bleiben.
Was mein Vater tut und weiß, es gehört ihm allein. Nur er darf davon sprechen, nicht ich.
Es ist nicht schlecht zu lügen; solange die Wahrheit geschützt wird. Es ist lustig, daß alle anderen Kinder es anders lernen; es ist nicht gefährlich.
Wir haben eine Wahrheit, jeder seine; nur Cresspahl darf ich meine mitteilen.“

Außerhalb ihres Zuhauses lebt Gesine in einer Welt einfacher Wahrheiten. Bananen sind vom Feind und verursachen Kinderlähmung, in der Schule muss sie Sprüche wie „Die Kinder lieben Adolf Hitler. Die Kinder beten für Adolf Hitler“ aufsagen, und sie hört von der „abgefeimten Tücke“ der Engländer. Zugleich trifft sie im Rander Strandhotel alle zwei Wochen mit dem Vater auf einen fremden Mann und begleitet ihn auch auf Spionagereisen. Nicht zu sagen, was sie hörte und dachte, war eine lebenswichtige Maßnahme für die Familie.

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Literatur:

Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2017.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.