Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

32. Lesung: Erzählungen von Krieg, Vernichtung und Verfolgung

Im Sommer 1943 überlebt Gesine Cresspahl einen Bombenangriff auf Rerik, bei dem der Schwager ihrer Tante und seine Frau ums Leben kommen. Vom Soldaten Klaus Böttcher erfahren Heinrich Cresspahl, dessen Eltern und der Lehrer Kliefoth von Verbrechen an russischen Zivilistinnen, die Frau des New Yorker Tschechischlehrers ist kurz vor der Befreiung durch die Alliierten in Prag verhungert. Von den Verstrickungen des eigenen Lebens mit dem Nationalsozialismus handelt die zweiunddreißigste Lektürewoche.

***

Darum geht es in diesem Blog

***

„Sie fuhr nicht gern weg aus Jerichow“ (29. März 1968)

1943 sehen die Sommerferien für Gesine Cresspahl ganz anders aus als in der vergangenen Lektürewoche. Die Stimmung bei den Niebuhrs, bei denen sie in Rerik die Ferien verbringt, ist gedrückt: Peter Niebuhr muss nach den Ferien an die Ostfront, davon wissen die Kinder aber nichts; seine Frau Martha weint aus ihrer Sicht grundlos und ist ebenso grundlos streng mit ihrem Sohn Klaus. Alles ist anders als mit den Paepckes.

Alt Gaarz an der mecklenburgischen Ostseeküste, ab 1938 Rerik genannt

Gesine ist nur aus „Gehorsam“ gegen den Vater überhaupt nach Rerik gekommen, doch dieser Gehorsam rettet ihr letztlich das Leben. Denn die Niebuhrs nehmen die Sirenen des Luftalarms nicht ernst, sie aber bleibt mit dem Baby Günther auch noch im Keller sitzen, als die Erwachsenen und Klaus schon wieder in den Garten gegangen sind, „weil sie Cresspahls Vorschriften folgte“. Beim Angriff stürzt Klaus in den Luftschutzkeller, die Erwachsenen sind sofort tot.

„Gesine hörte das kleine Kind schreien, tastete sich zu ihm, lief mit ihm zurück zu dem Loch in der Mauer, hielt das brüllende Geschöpf der Luft entgegen. Sie war sehr tief unter der Erde. Die Kinder wurden aber an der fast völlig verschütteten Gasschleuse gesucht. Die Detonation war so laut gewesen, sie begriff erst nach einer Minute, daß sie schon mehrmals gerufen worden war. Weil sie das kleine Kind auf dem Arm hatte, mußte sie den noch immer liegenden Klaus mit den Füßen in die Seite stoßen, damit er aufwachte. Sie war das älteste Kind.“

Die Zehnjährige muss Verantwortung für die beiden Jungen übernehmen, für sie sorgen, als sie nach Kühlungsborn gebracht werden, wo nachts wieder die Sirenen heulen und sie die beiden weckt und in den Luftschutzkeller bringt und zwar solange bis der Vater kommt.

„Das Kind Gesine kannte sich inzwischen aus mit Begräbnissen. Sie wusste das mit den drei Händen Erde auf den Sarg.“

Klaus und Günther Niebuhr werden von ihrer Tante Gertrud Niebuhr, geborenen Cresspahl, in Wendisch Burg großgezogen, von wo Klaus 1953 mit Ingrid Babendererde in Johnsons gleichnamigen Erstlingsroman in den Westen flieht.

 

Ich dörf gar nicks vertelln. De scheitn mi dot.“ (27. März 1968)

Klaus Böttcher, der Sohn des Vorsitzenden der Tischlerinnung Gneez, kommt im Februar 1943 für drei Tage nach Gneez. Der Zweiundzwanzigjährige, eigentlich mit einer „verschmitzten, selbstzufriedenen Art“ gesegnet, sitzt nun im Hotel Stadt Hamburg, betrinkt sich und schweigt. Erst am letzten Abend erzählt er, gedrängt von seiner Mutter, zögernd von seinen Erlebnissen an der Ostfront bei Smolensk. Auf dem Weg von Bialystok nach Smolensk sieht er ein Lager, in der Zivilbevölkerung gefangen gehalten wird. In Smolensk aber macht er mit einem Freund einen grauenhaften Fund, als er sich nachts aus der Kaserne stiehlt.

„Wir haben in einem Gehölz am Stadtrand einen Haufen Leichen gefunden. Mannshoch. So, bis zur Schulter. Zivilisten. Aufgestapelt, wie zum Verbrennen. […] Kinder und Frauen, als ob sie von der Arbeit gekommen wären. Vom Einkaufen.“

Fotografieren kann Klaus es nicht, denn die beiden werden von der SS aufgegriffen und mussten schwören, nichts gesehen zu haben. Der Urlaub ist eine Belohnung für den Schwur. Die Zuhörer halten die SS für die Schuldigen, dass die Wehrmacht an den Verbrechen gegen die russische und jüdische Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete beteiligt war, ist inzwischen durch Forschungen belegt und durch die Ausstellung „Vernichtungskrieg“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung weit verbreitet. Für die Gneezer Zuhörer ist es schwer zu verstehen, und Klaus verliert fast die Geduld: So dunkel sei es nicht gewesen und eine haben ausgesehen wie Cresspahls Tochter.

„Kinder?
Kinder.
Aber das sind doch Deutsche, die S. S.
Das sind sie.
Ganz zivile Kinder?
Nu kleit mi doch an’ Nors. So düster wier dat nicht. Ein het utseihn, dor f
æhlt nich væl, denn is de Diern likert Cresspahl sin wæst!
Cresspahl, glœwst du dat?
Ja.“

Russische Kriegsgefangene während eines Transportes im Gebiet von Smolensk, 1941/42, Hamburger Institut für Sozialforschung, Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“

 

Es ist vergangen, Mrs. Cresspahl“ (28. März 1968)

Seit November 1967 nimmt Gesine Cresspahl jeden Donnerstag Unterricht bei Anatol Kreslil aus Budweis, um Tschechisch zu lernen. Am schon älteren Kreslil ist das „Märchen vom Erfolg“ vorbeigezogen, auch nach zwanzig Jahren muss er sich mit „Übersetzungen, Schreibarbeiten, gelegentlich Privatstunden“ über Wasser halten. Schon bald treffen sie sich nicht mehr in seiner ärmlichen Wohnung an der 90. Straße, sondern unternehmen Spaziergänge, der Lehrer kommt an den Riverside Drive oder auch in die Bank. Geübt wird mit einem Buch namens „Pennäler contra Pauker; Strategie und Abwehr“, denn Kreslil war Gymnasiallehrer in der Tschechoslowakei. Über den Austausch von Schulerfahrungen kommen Lehrer und Schülerin ins Gespräch, auch über Familie und Herkunft. Er nennt Gesine eine Slawin, weil die Obotriten im Mittelalter Mecklenburg besiedelten, sie nennen sich beim Vornamen. Und so erfährt Gesine Cresspahl auch die Geschichte ihres Lehrers.

Johnson verschränkt den kindlichen Lebenslauf seiner Protagonistin mit dem des jüdischen Gymnasiallehrers, kontrastiert ihre Sicherheit mit Kreslils gefährdetem Leben und fordert so die Leser*innen zum Perspektivwechsel heraus.

Nach der endgültigen Besetzung der Tschechoslowakei im März tauchen Anton Kreslil und seine Frau im Sommer 1939 unter. Einzug der Leibstandarte Adolf Hitlers in Prag 1939

„Als ich die alte deutsche Schrift kennenlernte, verbarg der Gymnasialprofessor seine Frau und sich bei Verwandten […]. Die Schülerin Cresspahl war auf dem Fischland zu Ferien; in diesem Sommer wurden die Kreslils von Nachbarn seines Schwiegervaters an die deutsche Besatzungsmacht verraten und lebten danach in Prags Vorstädten in Verstecken bei vier Familien […]. Cresspahls Kind lag in einem eigenen Zimmer in eigenem Bett und hörte im Halbschlaf dem Vater die Geschichte vom Erdenwallen Robin Hoods ab; die Kreslils hörten in ihrem Versteck eine jüdische Nachbarin Růžena besuchen, die ihrem fünfjährigen Kind mit dem letzten Geld ein Paar Schnürstiefel für die Deportation ins Gaslager kaufen wollte. Da Růžena die Stiefel hergab für die Reise, deren Ziel sie kannte, mochten die Kreslils bei ihr nicht bleiben, wollten lieber bei anderen hungern, bis am Hunger Frau Kreslil starb nicht viele Tage vor der Ankunft der Alliierten; und das Kind Cresspahl aß von seiner Brotscheibe säuberlich erst die Kruste, damit das kostbare Mittelstück bis zuletzt blieb.“

Vielleicht täten wir alle gut daran, uns einmal zu fragen, was wir während der Kämpfe um Aleppo und andere Städte taten: Brötchen holen, Fußball gucken, Kino? Die Figur Kreslils zeigt auch, welche Leistungen auch Jahre nach einem Neuanfang zu erbringen sind. Den „Kraftakt“ des Ankommens in Deutschland hat die Journalistin Simone Gaul gerade anhand der Familie der Syrerin Halima Taha eindrücklich beschrieben. Sie und ihr Mann würden alles tun, um ihren Kindern ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. So wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 in Artikel 1 allen Menschen verspricht.

***

Literatur:

Hamburger Institut für Sozialforschung, Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944, Hamburg 2002.

Simone Gaul, Wenn es sein muss, brät sie auch Schweineschnitzel, Zeit online, 23. März 2018.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.