Für die Familie Cresspahl bedeutet der zu Ende gehende Krieg einen weiteren schweren Verlust: Im März kommen Hilde Paepcke und ihre Kinder Alexandra, Eberhardt und Christine bei einem Luftangriff auf den LKW um, in dem sie „auf einer Landstraße in Vorpommern“ fuhren. Ihr Grab können Heinrich und Gesine Cresspahl nach dem Krieg nicht finden. Vom Kriegsende in Jerichow und Wendisch Burg handelt die vierunddreißigste Lesung.
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„Alle Deutschen haben es gewußt, Gesine“ (7. April 1968)
Heinrich Cresspahls Strategie, auf dem Flugplatz Mariengabe den etwas tumben Sonderling zu geben, ist aufgegangen: Der für die britische Flugabwehr spionierende Kunsttischler ist heil durch den Krieg gekommen, weil die deutsche Spionageabwehr ihn für einen „harmlosen Alten“ hält. Von den Schulberichten seiner Tochter über die Vernichtung Londons durch V2-Raketen lässt er sich hinreißen zu einem „überraschten, dann deftigen Lachen“, und so sitzt sie „freundlich beobachtend“ im Unterricht und weiß: Der Krieg ist bald vorbei.
„Es war für ein Kind zu sehen. In Jerichow gab es noch Familien, deren Eltern glaubten an die Volksgemeinschaft und kauften keine Familien schwarz, da hungerten die Kinder.“
Infrastrukturen funktionieren nicht mehr, sogar der Eisenbahnverkehr auf der Stichstrecke Jerichow-Gneez ist eingeschränkt, Briefe kommen nicht mehr an. Das Leben der Jerichower kommt zu einem Stillstand, selbst Radfahrten von mehr als drei Kilometern sind nicht mehr erlaubt. Gesines Lehrerin fragt Anfang 1945 an, wann die Elfjährige „denn nun endlich dem Jungmädelbund“ beitreten werde, aber Cresspahl glaubte noch nie an die Volksgemeinschaft und hält es nicht mehr für nötig: „Nè. Nu nich mihr, Gesine“.
Über Mariengabe hat Cresspahl kaum noch berichten müssen, wohl aber über Standorte der Flugzeugproduktion und zur Testung von Luftwaffen. Die Informationsbeschaffung tarnte er als Besuche bei Verwandten oder als Reisen zur Suche nach Holz und Ersatzteilen. Noch etwas anderes meldet Cresspahl den Briten.
„Wo immer es anging, fügte er seinen Berichten Angaben über die mecklenburgischen Konzentrationslager bei, damit wohl die heinckelschen Betriebsauslagerungen getroffen wurden, nicht aber die ausländischen Zwangsarbeiter bei Krakow, in Retzow bei Rechlin, in Neustadt-Glewe, Rövershagen, Reiherhorst bei Wöbbelin und besonders in der Comthurey bei Alt-Strelitz. Die Insassen dieses Lagers hatte er in der Nähe des Bahnhofs gesehen, als sie zur Arbeit auf das Gut des S. S.-Obergruppenführers Oswald Pohl getrieben wurden, krummgeschlagen, wie verhungerte Tiere trottende Menschen.“

Von den Konzentrationslagern haben alle gewusst, sagt der Vater seiner Tochter, im imaginären Gespräch.
Martin Niebuhr sprengt seine Schleuse nicht (11. und 12. April 1968)
Die deutsch-demokratische Geschichtspolitik erzählt in Johnsons Romanwelt 1965, zum 800jährigen Jubiläum der fiktiven Stadt Wendisch Burg, die Geschichte der Ankunft sowjetischer Truppen in der Stadt so: Deren Rettung „vor Beschuß und Bombardement“ wird „Alfred Wannemaker und Hugo Buschmann zugeschrieben, beides Mitglieder der damals verbotenen Kommunistischen Partei und heute in hohen Funktionen in der Bezirksleitung Rostock und in einem Ostberliner Ministerium“. Ähnlich dem Mythos der Selbstbefreiung Buchenwalds durch kommunistische Insassen wird die Stadt durch antifaschistischen Widerstand und die heroische Tat zweier Kommunisten und ihres polnischen Dolmetschers vor der Zerstörung gerettet.
„Der Pole als Dolmetscher, die klassenkämpferische Solidarität der Nationen, und die Rote Armee zogen zwischen den unversehrten Fachwerkgiebeln der Alten Straße von Wendisch Burg“
– so die Erzählung des Jahres 1965, von Johnson an DDR-amtliche Darstellungen der Übergabe Güstrows am 2. Mai 1945 angelehnt.
Heinrich Cresspahl erzählt seiner Tochter eine ganz andere Geschichte. Er muss es tun, weil deren Hauptakteur, sein schweigsamer Schwager, der Schleusenwärter Martin Niebuhr, seiner Nichte selbst nichts sagen würde: „Kennst ihn ja“. Die Rede ist
„von einem geduckten, langarmigen Mann in blauem Maschinistenzeug, der seine Kraft ohne Eile einsetzt, langsam ist im Reden wie in Entschlüssen, nahezu verschlafen, der überraschend ‚aufgewacht‘ ist, nicht nur umsichtig, auch schnell handelt, notfalls verschlagen und verlogen, schließlich richtig. Aufgeweckt hat ihn der Entschluss eines S. S.-Obersturmführers, die Havelschleuse Wendisch Burg zu sprengen und mit allem Wasser oberhalb davon die sowjetischen Verbände nach Süden wegzuspülen.“
Die Sprengung seiner Schleuse geht dem Beamten gegen den Strich, Dämmung und Kontrolle von Wasser waren sein Leben, zudem würde eine Sprengung nicht nur die Umgebung zerstören, sondern auch seine Existenz aufs Spiel setzen, auch wurde der Weisungsweg vom Wasseramt in Berlin nicht eingehalten, so Heinrich Cresspahl. Martin Niebuhr verkürzt diesen Motivkomplex eines gewissenhaften Staatsdieners den „Pionieren“ gegenüber, die am 28. April 1945 von der SS zu seiner Schleuse geschickt werden, auf „Dat geit nich“.

Gertrud Niebuhr lädt die beiden „Pioniere“ zum Essen ein und lässt sich ausführlich beim Abendbrot über all die Menschen aus, die das Wasser mitreißen oder in ihrer Existenz gefährden würde. Martin Niebuhr erklärt den beiden beim Schnaps, von dem er eigentlich eine Kuh hatte kaufen wollen, welche Wege nach Norden die Rote Armee trotz der Sprengung nehmen könnte, und damit die Sinnlosigkeit des Unterfangens. Auf dem Dachboden der Niebuhrs hält sich der Deserteur Karsch versteckt „und Karsch fiel es ein, daß da doch auch Telefon sei, wo die Russen inzwischen standen“. Über das Binnennetz des Wasserstraßenamtes informiert er einen sowjetischen Offizier über die Ankunft der SS „am Geburtstag des Österreichers“. Sie hatte die Bewohner am Südertor Panzergräben ausheben lassen und die Stadt für die Sprengung vorbereitet, Häftlinge aus umliegenden Konzentrationslagern sollten bei der Ankunft der Roten Armee erschossen werden, darunter auch Russen. Die sowjetischen Truppen nehmen Wendisch Burg daraufhin im Morgengrauen von Norden ein und befreien die Häftlinge; die beiden Pioniere desertieren.

Der Widerstand der Romanfiguren ist keine heroische Tat, sondern er geschieht eher aus Common sense. Die Sprengung der Schleuse hat zu hohe Kosten für Martin Niebuhr selbst und seine Nachbarn. Cresspahl ist erpressbar und nutzt seine Möglichkeiten, dabei immer auf der Hut, um Gesine nicht zu gefährden. Dieser pragmatische Widerstand macht deutlich: Es gab Möglichkeiten, sich zu widersetzen. Er hat aber auch Grenzen, und hier liegt Gesine mit ihrem Vater überkreuz. Als Ostern 1939 ein entflohener jüdischer KZ-Häftling namens Gronberg auf Cresspahls Hof auftaucht und sich nach Dänemark retten will, versorgt er ihn zwar mit Essen und Informationen, aber er schickt ihn allein weiter nach Rande, wo er Fischer überreden müsste, ihn nach Dänemark zu bringen. Denn er will seine Spionagetätigkeit „um dieses Einen willen“ nicht gefährden.
„Ich wünschte sehr, Cresspahl auch hierin zu verstehen“ – resümiert die Tochter an dem Tag, an dem im Jahr 1968 das Pessach-Fest beginnt. Von Gronberg erfahren die Leser*innen der „Jahrestage“ nichts weiter, und das deutet darauf hin, dass er die Shoah nicht überlebt hat.
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Literatur:
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.
Herfried Münkler, Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45 (1998), S. 16-29.
Martina Ölke, Gereinigte Vergangenheit? Strategien der Gemeinschaftskonstituierung in Bruno Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen(1958), in: Elisabeth Cheauré/Antonia Napp/Regine Nohèjl (Hrsg.): „Vater Rhein und Mutter Wolga…“. Würzburg 2005, S. 205-221.
Ramona Ramsenthaler, Die Mahn- und Gedenkstätten Wöbbelin, in: Bildungsangebote der Mahn- und Gedenkstätten Wöbbelin, hrsg. Verein Mahn- und Gedenkstätten im Landkreis Ludwigslust e. V., Dez. 2011, S. 5-9.