Am Ende des zweiten Bandes der „Jahrestage“ fügt Johnson einen aus dem Schema des Romans herausfallenden Text an, betitelt „Mit den Augen Cresspahls“. Der Kunsttischler gibt 1949 seiner sechzehnjährigen Tochter Auskunft. Die erzählt als Erwachsene in New York ihrer Tochter davon, wie sie deren Vater Jakob Abs kennengelernt hat. In der fünfunddreißigsten Lektürewoche geht es um Väter und Großväter.
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„Sag mir den Anfang“, Gesine (16. April 1968)
Schon einmal hätte die Mutter von Jakob Abs erzählen können – Maries Vater, der vor ihrer Geburt ums Leben gekommen ist und den sie nur aus Erzählungen kennt. Aber am 13. April sagte Marie „Nicht jetzt“ zur ihrer Mutter, als die ihre Frage „War Jakob schon da?“ bejahte. Nun aber will sie von der Begegnung von Mutter und Vater wissen. Genauso wie sie sich eine abenteuerlichere Erzählung vom Kriegsende in Jerichow wünscht, soll die Begegnung ihrer Eltern eine romanhafte sein. Eine, nach der man weiß, „der erste Tag vom Rest deines Lebens“ hat nun begonnen, wie man es in den Vereinigten Staaten formuliert. Doch als Zwölfjährige einen Siebzehnjährigen zu beeindrucken, ist gar nicht so leicht:
„Er war fünf Jahre älter als ich. Er gehörte zu den Erwachsenen. Er hatte ein erwachsenes Gesicht, verschlossen, streng, eigensinnig. […] Ich wollte ihm gefallen und tat, als verstünde ich mich auf Pferde. Nach der Schwemme benahmen die Pferde sich munter, und Jakob fragte, ob ich galoppieren könne. Ich sagte wieder ja. Er hatte mir einen Fuchs gegeben, ein junges lustiges Tier, und ich mußte ihn gar nicht zum Galoppieren bringen. Er begann zu springen, als er seine Genossen springen sah. Und ich flog zum großen Erstaunen des Tieres kopfüber über seinen Kopf, ihm vor die Füße. […] Danach ging ich Jakob ein wenig aus dem Weg.“

Kurz darauf erkrankt das Mädchen schwer an Typhus. Marie Abs, Jakobs Mutter, pflegt sie und die ebenfalls erkrankte Hanna Ohlerich, die bei den Cresspahls Unterschlupf gefunden hat. Gesine fallen die Haare aus, sie hat vom Gelenkrheumatismus starke Schmerzen und hängt „ganz schief in den Gräten“. Nicht unbedingt die Bedingungen, unter denen man seinem ersten Schwarm begegnen möchte. Der versucht sie mit Blick auf ihre Haare zu trösten: „Dat wast wedde, wacht man.“ Nicht wirklich der erste Tag vom Rest ihres Lebens.
Den Vater verhören (Jahrestage Band 2, Anhang)
In serifenloser Schrift folgt auf den 19. April 1968 ein achtzehnseitiger Text, in dem der zu diesem Zeitpunkt 61 Jahre alte Heinrich Cresspahl auf die Fragen seiner sechzehnjährigen Tochter über seine Lebensentscheidungen und über diverse Jerichower antwortet. Von Johnsons Verleger Siegfried Unseld als episches Namensregister der Hauptfiguren eingefordert, ist dieses eingeschobene Kapitel eine Mischung aus Rechenschaftsbericht, Lexikon und Dialog von Vater und adoleszenter Tochter. Vor allem über Cresspahl erfährt man Neues oder besser: über seine Sicht auf die Dinge, auch über Louise Papenbrock und ihren vermeintlich aus Südamerika zurückgekehrten Sohn Robert.

Mit der Frage konfrontiert „Warum er, als Deutscher?“ lehnt Heinrich Cresspahl diese Zuschreibung entschieden ab. Bei ihm überwiegt die regionale Identität als Mecklenburger und auch die Schichtzugehörigkeit, wenn er behauptet, kein „Mal sei er von den Deutschen gefragt worden wegen der Gesetze, die sie über ihn verhängten“. Das ist nicht ganz richtig, der 1888 geborene Cresspahl konnte 1907 und 1912 an den Reichstagswahlen teilnehmen, ab 1919 auch zur Bestimmung einer Regierung, die dem Parlament verantwortlich war, bevor er wegen einer Frau erst nach Amsterdam und dann 1926 wegen Elizabeth Trowbridge nach Richmond ging. „Weltkriegswitwe. Sehr jung. Vielleicht vermögend.“ Die Beziehung der beiden ist nicht verbindlich, als Elizabeth es sich anders wünscht, verschweigt sie dies dem gerade verlobten Cresspahl ebenso wie ihre Schwangerschaft. Mutter und Kind sind 1940 bei einem Bombardement ums Leben gekommen – oder das soll er glauben. „Es werde Mrs. Trowbridge so recht sein.“
Was dafür gesprochen habe, ihre Mutter Lisbeth zu heiraten, will Gesine wissen, doch Cresspahl antwortet vage: „Die Zukunft“, und dass sie sich gleich einig gewesen seien, miteinander leben zu wollen. Der Vater reagiert ein wenig mürrisch: „Er erteilt einer Sechzehnjährigen keinen Brautunterricht.“ Cresspahl glaubt, es wäre besser für seine Frau gewesen, in Richmond zu bleiben, denn dort „hätte sie weniger leicht einen Grund gehabt zum Sterben“. Für diesen Tod macht er seine Schwiegermutter maßgeblich verantwortlich. Vater und Tochter einigen sich darauf, die Todesnacht der Mutter nur zu streifen. Auch ihm selbst würde es in Richmond wohl besser gehen, aber zurück nach England will er wegen der vielen schmerzhaften Erinnerungen nicht. Verloren hat er nicht nur seine Frau, sondern auch die einstige Geliebte und Gefährtin und den Sohn, den er nicht kennt.
Von Ottje Stoffregen wird er fast des Abhörens von Feindsendern überführt, weil der den Kindern den Anfang von Beethovens Fünfter Sinfonie vorspielt – und Gesine auf die entsprechende Frage zugibt, sie zu kennen. Da bei den Cresspahls aber kein Blaupunkt-Radio gefunden wird, mit dem die BBC gehört werden kann, und sich die Tochter an die Beethoven-Schallplatten ihres Onkels Alexander Paepcke erinnert, kommt der Spion nach der Befragung noch einmal davon. Tatsächlich hat Gesine das Erkennungszeichen der „V for Victory“-Sendungen mit den als Morsecode des „V“ der „V.“ Sinfonie erkennbaren Anfangsschlägen im Radio gehört, bei ihrem Onkel.
Dass Cresspahl auf der Seite der Briten gestanden habe, soll niemand wissen, es „sei in Zeiten wie diesen nicht bekömmlich“. Gesine dürfe es später ihrem Kind erzählen. Jakob aber darf sie es schon jetzt erzählen.
„Und so schwamm ich hierher den ganzen weiten Weg aus Mecklenburg“ (20. April 1968)
Wieder beginnt ein Band der Tetralogie „Jahrestage“, es ist an diesem 20. April 1968 der dritte, mit Wasser. Gesine und Marie sind nicht mit der South Ferry nach Long Island gefahren, sondern an den Patton Lake in Indiana.
„Das Wasser ist schwarz.
Über dem See ist der Himmel niedrig zugezogen, morgendliche Kiefernfinsternis schließt ihn ein, aus dem Schlammgrund steigt Verdunkelung auf. Die Hände der Schwimmenden rühren voran wie gegen eine schwere Farblösung, kommen erstaunlich rein an an die Luft. […] Lass Dich zwei Fuß sinken unter die stillstehende Fläche, und du hast das Licht verloren an grünliche Schwärze.“
Marie fordert ihre Mutter auf, ihre Biographie anhand der Seen zu erzählen (Johnson erzählte seine anhand von Flüssen), in denen sie geschwommen ist. „Die Ostsee lässt das Kind nicht gelten“, auch keine Badeanstalten, die zieht sie ihrer Mutter ab von den Seen in Mecklenburg, dem Wannsee mit Anita, Seen in den Vereinigten Staaten und in den Vogesen. Die Tochter zählt mit Patton Lake neunzehn Seen. Dann schwimmt sie ihrer Mutter davon, grüßt die Stars and Stripes mit der Hand auf dem Herzen und ruft ihr entgegen: „And you came swimming all the way from Mecklenburg!“

In New York existieren die Väter nur in der Erinnerung Gesine Cresspahls, und mit Jakob war sie nie in einem See geschwommen.
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Literatur:
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Alexandra Kleihues, „And you came swimming all the way from Mecklenburg!“ Von Jerichow nach New York in Uwe Johnsons Jahrestagen“, in: Georg Gerber u. a. (Hg.): Transatlantische Verwerfungen – Transatlantische Verdichtungen. Kulturtransfer in Literatur und Wissenschaft, 1945-1989, Göttingen 2012, S. 274-290.
Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.
Hedwig Richter Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg 2016.