Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

37. Lesung: Über die Haltung des Protestierens, 1968

In New York eskalieren in der letzten Aprilwoche 1968 die Studierendenproteste an der Columbia-Universität. Am Riverside Drive streiten Gesine Cresspahl und ihre Tochter Marie deshalb über Motive für, Haltungen zu und mögliche Lösungen durch Protest. In der siebenunddreißigsten Lektürewoche geht es deshalb um die Haltung des Protestierens.

 

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Darum geht es in diesem Blog

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Ab dem 23. April 1968 besetzen die Studierenden der Columbia-Universität erst die Baustelle ihres neuen Sportzentrums in Morningside Park, dann fünf Gebäude der Universität und das Büro des Präsidenten Grayson Kirk. Der hatte bereits im März Demonstrationen auf dem Campus verboten und behauptet, die Studierenden seien dem Nihilismus anheimgefallen. Die Proteste richten sich zum einen unter dem Schlagwort „Gym Crow Must Go“ – einer Anspielung auf die rassistischen, als „Jim Crow“ bekannten Segregationsgesetze – gegen den Bau eines exklusiven Sportzentrums im Morningside Park, das den mehrheitlich afroamerikanischen Bewohner*innen Harlems ein wichtiges Erholungsgebiet nehmen würde. Zum anderen kritisieren die sich in der sogenannten „action-fraction“ radikalisierenden Studierenden die Verstrickungen ihrer Universität mit dem Institute for Defence Alliance (IDA), das in den Worten der Protestierenden Waffenforschung für das Verteidigungsministerium betreibt und den Antiguerillakampf in Vietnam analysiert. Über die Ziele der Besetzung besteht  unter den Studierenden Uneinigkeit, so die Bielefelder Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey: Das eine Lager will die Universitäten reformieren und mehr Mitbestimmung für Studierende erreichen, das zweite hält dies für einen opportunistischen Kompromiss und strebt eine Allianz mit den „Verdammten der Erde“ Frantz Fanons an – Hinweis auf die zunehmend globale Selbstverortung der Proteste.

Studenten blockieren am 26. April 1968 die Zugänge zu den Hörsälen an der Columbia-Universität in New York und grüßen einen Professor, der sich von der weiterhin bestehenden Blockade überzeugt, mit dem Peace-Zeichen.

Die liberalen Dozierenden der Columbia-Universität diskutieren während der gut eine Woche andauernden Besetzung mit den Studierenden, darunter auch Hannah Arendt. Ihre Beobachtungen zur zunehmenden Gewaltrhetorik und -bereitschaft der Studierenden veröffentlicht sie 1969 in einem Essay, der 1970 unter dem Titel „Macht und Gewalt“ auch auf Deutsch erscheint. Sie macht das Geschichtsverständnis der Protestierenden für deren destruktive Haltung verantwortlich. Wer „Geschichte als einen kontinuierlichen, chronologischen Prozess“ verstehe, dessen „Fortschreiten in der einmal eingeschlagenen Richtung vonstatten gehe“, für den seien gewaltsame Eruptionen die einzige Möglichkeit zur Veränderung. Dieser noch immer fortschrittsoptimistischen Sicht auf Zeitläufte setzt sie Grundsätzliches entgegen:

Hannah Arendt, 1969

„In Wahrheit jedoch ist es die Funktion jeden Handelns, im Unterschied zu einem bloß reaktiven Sichverhalten (behavior), Prozesse zu unterbrechen, die sonst automatisch und damit voraussagbar verlaufen würden.“

Gewalttätigkeit werde hingegen keine langfristigen Veränderungen hervorbringen, zu groß sei die Gefahr, dass der Zweck den Mitteln unterworfen werde und damit die Rechtfertigung von Gewalt nicht mehr gegeben sei.

 

Am Tag nach der gewaltsamen Räumung mit 700 Verhaftungen und 150 Verletzten diskutieren Gesine und Marie Cresspahl über die Proteste. Gerahmt wird ihr Dialog eingangs von Zeitungsartikelfragmenten zur Verurteilung im Stuttgarter Lemberg-Prozess („nur einer der Schuldigen soll fürs Leben ins Gefängnis“) und dem Einzug der NPD in das baden-württembergische Parlament, die „jeder zehnte auf den Straßen Württembergs“ gewählt hat. Ausgangs streitet der tschechische Parteisekretär „es ab, daß die sowjetischen Freunde die Lieferung von Weizen gekündigt haben“.

Die Gebäude der Universität wurden nach den Prinzipien der Segregation besetzt – Hamilton Hall von afroamerikanischen Studierenden.

Marie hat sich die „Revolution bloß zwanzig Blocks von unserer Haustür“ angesehen und diskutiert nun mit ihrer jeglichen Protest zunächst skeptisch betrachtenden Mutter über die Geschehnisse. Die Tochter glaubt an die Veränderungsmöglichkeiten durch den Protest, die Studierenden wollen aus ihrer Sicht die Universität und die Gesellschaft verändern. Die Mutter kritisiert Sachbeschädigung und Selbstbezogenheit der Studierenden. Die Proteste gegen das Sportzentrum sind aus ihrer Sicht bloß ein Mittel, um sich Gehör zu verschaffen, die Pläne bestehen seit 1959, für die Bewohner Harlems soll ein Schwimmbad gebaut werden – mit separatem Eingang. Sie fragt, was nun 1968 anders sein kann, und ihre Tochter macht mit marxistischer Bewusstseinstheorie einen Punkt:

„Vielleicht wissen die Leute von Harlem jetzt besser, wer sie sind, und wollen von der Universität der Weißen keine Gnade und keinen Eingang durch die Hintertür.“

Gebaut werden solle das Sportzentrum am Riverside Drive, findet Marie, und zusätzlich ein Schwimmbad im Morningside Park durch die Stadt. Zu ihrem Erstaunen ist die Mutter einverstanden mit ihrer Sicht auf die Dinge. Beim Urteil über die Mitarbeit von Wissenschaftler*innen bei der IDA hingegen bewertet die Mutter alle Proteste als hoffnungslos verspätet. Marie muss zugeben, dass es sich um Angehörige der weißen Mittelschicht handelt, tatsächlich hatte der SDS keinen Kontakt zu den ca. 70 afroamerikanischen Studierenden an der Columbia. Die Tochter will sie davon überzeugen, mit ihr zur Universität zu laufen und die Studierenden zu unterstützen. Sie kann nicht verstehen, dass die Mutter sich für „Sozialismus in einem fremden Land“ mit kapitalistischen Mitteln einsetzt und nicht in der Gesellschaft, die ihr zur Heimat geworden ist. Für Marie ist Protestieren wie Handeln im Arendtschen Sinne Veränderung, ihre Mutter ist skeptischer, als Grund nennt sie ihre Erfahrungen:

„Vielleicht habe ich zu lange an der Politik gelernt und kann es nun nicht mehr anwenden.“

Gesine Cresspahl wäre eine Angehörige jener mittleren Generation der Jahrgänge 1909 bis 1934 gewesen, wie jene Deutschen aller Schichten, mit denen 1968 Interviews an der Universität Bonn geführt wurden, die Christina von Hodenberg in ihrer gerade als Buch erschienenen Studie „Das andere Achtundsechzig“ ausgewertet hat. Über die Gruppe der um 1930 geborenen Befragten erfährt man, „dass sie sich vom NS-Regime um ihre Jugend betrogen fühlte und ihre kindliche Begeisterung für Hitler und den Krieg zu bereuen gelernt hatte. Deswegen verteidigte sie tendenziell das Recht der studentischen Jugend auf Kritik, lehnte die Proteste aber an dem Punkt ab, wo sie in utopisches Denken und gewalttätige Aktionen umschlugen.“

Die Londoner Historikerin kommt zu einer gesellschaftlich breiteren und vor allem weiblicheren Wahrnehmung von 1968. Auch Johnson gelingt mit dem Dialog von Mutter und Tochter eine differenzierte Perspektive auf die Proteste in New York, indem er darauf verzichtet, sie auf Mark Rudd und Tom Hayden zuzuspitzen, die amerikanischen Pendants von Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit.

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Literatur:

Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 2014 (EA 1970).

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, akt. u. erw. Ausg. München 2017

Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt a. M. 2008.

Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.

Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig.Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018.

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.