Am 9. Mai 1968 geht Gesine Cresspahl nach einer frustrierenden Unterrichtsstunde bei ihrem Tschechischlehrer Anton Kreslil, ohne sich von der Arbeit abzumelden, ins Kino. Sie legt sich mit dem Film „Der fünfte Reiter ist die Angst“ nicht nur eine Sprachprüfung auf. Die achtunddreißigste Lektürewoche handelt deshalb von ihrem Kinobesuch.
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Der Tschechischunterricht bei Anatol Kreslil ist inzwischen „aufgelöst in Gespräche“, und geht zuweilen schleppend voran, da „der kleine Vorrat an Gemeinsamem rasch aufgebraucht“ ist. Dazu hört Kreslil neuerdings „nicht mehr gern Neuigkeiten aus Prag, seit darin das polizeiliche Durchfegen des Landes in den fünfziger Jahren vorkommen kann“. Das erzählende Wir – Gesine Cresspahl und der Genosse Schriftsteller – dürfen nach diesem Abschnitt seiner Biographie nicht fragen. Dann begeht Gesine noch den Fauxpas, mit ihm über eine Telefonumfrage in der Times zu den Unruhen an der Columbia-Universität zu sprechen, die „wegen des ökonomischen Faktors“ nur unter Weißen stattgefunden hat und Afroamerikaner*innen ausschloss. Zu spät erkennt Cresspahl, dass auch Kreslil sich kein Telefon leisten kann, und so ist der Unterricht am 9. Mai 1968 „einer von den mißlungenen Tagen“.

Fast wie in einem Akt der Buße schaut sich Gesine Cresspahl nun im „Baronet“ an der 59. Straße den tschechischen Film „The Fifth Horseman Is Fear“ (ČSSR, 1964) an, in der Originalsprache, die sie allerdings noch nicht mühelos versteht: „der Blick rutscht ihr auf die widerlich hilfreichen Untertitel“. Vorlage des Films war die Novelle „Ohne Schönheit, ohne Kragen“ aus dem Jahr 1962 von Hana Bělohradská (1929-2005), die gemeinsam mit dem Regisseur Zbyněk Brynych (1927-1995) auch das Drehbuch geschrieben hatte.
Im Film versteckt und verarztet der jüdische Mediziner Achim Braun, den die Nazis mit Berufsverbot belegt haben, im Frühling des Jahres 1941 einen verletzten tschechischen Widerstandskämpfer und bringt sich so selbst in Lebensgefahr. Auf der Suche nach Morphium für den Verletzten macht sich Braun auf den Weg durch das düster wirkende Prag, bei dieser Suche kommt er auch in die „Bar zur Verzweiflung“, in der Braun wie ein Fremdkörper im Trubel des Geschehens wirkt.
Ständig scheint Gefahr zu drohen. Auch wenn die Shoah – die Deportation der tschechischen Juden begann im September 1941 – nicht zu sehen ist, verweisen die Bilder immer wieder auf die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung. Braun verwaltet konfiszierte Güter, in den jüdischen Vierteln Prags stehen überall Möbelwagen der Firma Kirchberger, warum das nicht näher charakterisierte Publikum darüber lachen mag, kann Johnsons Zuschauerin nicht verstehen. Die drohende Vernichtung ist für sie sehr präsent:
„Eine Einstellung beginnt mit Duschdüsen, die nach gewöhnlichem Gebrauch aussehen und den Zuschauer plötzlich wegschicken zu denen in Auschwitz, aus denen das Gas kam. Es sollen doch Duschen sein zum Waschen, denn wenn die Nazi-Armee ein Bordell mit Jüdinnen betreibt, sollen sie vorher gereinigt sein. Sie sind nicht seit langem Huren, einst waren sie bürgerliche Töchter, gute Gesellschaft von Prag. Noch eine Alternative ist der geschickte Schnitt in die Pulsadern.“
Ob es Braun gelingt, den Widerstandskämpfer zu retten, bleibt offen, denn er wird von seinem Nachbarn Fanta denunziert, und die Gestapo treibt alle Hausbewohner im Keller des Hauses zusammen, während sie auf Brauns Rückkehr wartet. Der Arzt, so deutet der Historiker Peter Hallama den Film, wird sich der eigenen Passivität bewusst und stellt sich gegen sein von außen auferlegtes Schicksal. Er operiert trotz Berufsverbots und wählt sogar den Freitod, um seinen Verfolgern die letzte Demütigung zu verwehren und zugleich vom Versteck des Widerstandskämpfers abzulenken, so versteht es zumindest Gesine Cresspahl. Die ist sich des eigenen Verstehens jedoch sehr unsicher, denn „die vorbereitete Erwartung“ ist zugleich „die getäuschte“.

Nach dem Film sitzt sie zunächst benommen in der Bar des Hotel Marseilles, „als sei ihr etwas Unbegreifliches geschehen“. Das Ende des Films ist ihr unklar; was der Titel bedeuten soll, auch. Obwohl dieser auf die vier Reiter der Apokalypse aus der Offenbarung des Johannes 6, 1-8 Bezug nimmt, sucht Gesine Cresspahl die Erklärungen dazu bei Shakespeare und im Oxford Dictionary of Quotations – also in den eigenen Verweissystemen, nicht in jenen ihrer frömmelnden Mutter oder Großmutter. Aber sie kommt nicht recht weiter und spürt die Grenzen ihrer Bildung: „Es geht nicht gut mit Autodidaktik, eines Tages kommt es heraus.“ Für eine, die den Dingen gern auf den Grund geht, einen hohen Anspruch an sich hat, für die Denken und Verstehen Weltaneignung und damit auch Kontrolle über das Leben (oder deren Illusion) bedeuten, eine unbehagliche Situation.
„In der Stadt New York, sie lebt da seit 1961, zeigen sie einen tschechischen Film unter dem Titel Der Fünfte Reiter ist die Furcht. Die Phrase scheint so geläufig im Englischen, im Amerikanischen, das Buch der Zitate von Oxford braucht sie gar nicht mehr zu führen. Alle wissen es, die Cresspahl nicht. Sie ist nicht nur durch das Prüfungsfach Tschechisch gefallen. Sie hat auch im Englischen Bruch gebaut.
Dann kommt ein Kind aus dem Fahrstuhl, Schulbücher unterm Arm, schließt die Tür hinter sich, leicht verwundert, und sagt in ihrem gedankenlosen, ihrem unbedenklich fließenden Englisch: Du da, Gesine! Wie war es im Kino. Wie war der Film?“
Gesine Cresspahls Grenzen des Verstehens aber beziehen sich nicht nur auf das Tschechische und das Englische.
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Literatur:
Alice Aronová, Der fünfte Reiter ist die Angst, Goethe-Institut Prag 2013.
Peter Hallama, Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust, Göttingen 2015.
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.