Marie und Gesine Cresspahl erobern sich den Riverside Park vor ihrer Haustür „durch Benutzung und durch Erforschung“ und machen sich so ein Stück New York zu eigen. In Jerichow versucht Marie Abs ihr Leben auch für ihren Sohn Jakob neu zu ordnen, dabei immer auf der Suche nach ihrem verschollenen Ehemann. Die vierzigste Wochenlektüre handelt vom Aneignen von Orten.
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Am 2. Juni 2018 hält Birte Förster auf der Tagung der Johnson-Gesellschaft um 20 Uhr im Rostocker Rathaus den Abendvortrag „Die Woche mit Frau Cresspahl. Jahrestage schreibend lesen“. Interessierte sind herzlich willkommen.
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„Hier leben wir“ (19. Mai 1968)
Marie und Gesine Cresspahl leben in New York am Riverside Drive an der Upper West Side, zwischen Straße und Hudson liegt ein Park, wie die Straße benannt nach der Flusslage.
„Sieben Jahre leben wir an dem breiten wiesigen Gelände aus sanften Abhängen, Spazierwegen, Stützmauern, Fahrbahneinschnitten, Tunneln zum Fluss, alten Bäumen, Weißdorngebüsch, Denkmälern und Laubengängen, fast alle 106 Hektar sind wir abspaziert, und weil wir nicht an ihm aufgewachsen sind, nicht einmal durch Nachbarschaft ein Recht hätten auf ihn, versuchten wir ihn zu bewerben durch Benutzung und durch Erforschung obendrein, wie nur je Zugezogene, Ausländer.“

Die beiden Cresspahls eignen sich ihre Umgebung an, denn sie sind nicht „von hier“, auch wenn der Blick auf den Hudson Gesine Cresspahl zuweilen an die Mecklenburger Kindheit erinnert. Die Erforschung des Parks meint zuerst dessen Geschichte, und das ist eine von reichen Anrainern, die einen Park wünschen und ihn der Stadt New York abpressen, mit Erfolg: Ab 1879 gab es „eine bürgerliche Spielwiese, mit Reit- und Fahrradwegen“ zwischen Riverside Drive und Fluss. Der Park, „mit lauschigen Ecken und Tempelchen zum Rasten“, war nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten gestaltet, das Konzept stammte vom Landschaftsarchitekten Frederick Law Olmsted, der auch für den Central Park verantwortlich zeichnete.
Mit „Steinen von den Wasserschneisen der Catskills“ und Abraummaterial des U-Bahn-Baus wurde dem Fluss in den 1910er und 1920er Jahren Land abgetrotzt, um den Park zu vergrößern. Unter Robert Moses, dem allmächtigen Stadtplaner, wurden die Bahngleise seit 1937 „überbaut, versteckt in den Hügeln nach der Natur“, und der Henry Hudson Parkway gebaut, „verstellt mit Aufschüttungen und Hecken, […] wie mitgewachsen“. Auch Ulysses E. Grant, der 18. Präsident der Vereinigten Staaten, über den Mrs. Ferwalter in der vorigen Lektürewoche Bescheid wissen musste, ist im Riverside Park zu finden, sein Mausoleum, das dem Weltwunder von Halikarnassos nachgebildet ist, liegt weithin sichtbar auf Höhe der 122. Straße.

„Im Sommer scheint der Park die Stätte eines beständigen Volksfestes, da sind wir Gäste. Die Bänke an den Uferpromenaden sind nicht besetzt mit Ausflüglern aus den ärmeren Gebieten, Tennisspiele sind im Gange, Schachspieler sitzen rittlings auf den Bänken […], Leute mit der vorgestrigen Zeitung überm Gesicht schlafen wie in der eigenen Wohnung (die der Park sein mag), auf der Wiese an der 74. Straße lassen die Spaziergänger ihren Hund laufen und bleiben gern stehen zum Gespräch über ihre Tiere, Picknicks breiten sich im Grase aus, halbnackte Kinder springen und kreischen unter den blitzenden kühlen Fontänen auf den Spielplätzen, jagen die Schaukeln, drängen sich um den Mann mit dem Eiskarren.“

Im Park wird Sport getrieben, am Fluss geangelt, und am Yachthafen liegen die Segelboote. Die öffentliche Grünanlage dient den Bewohner*innen des Riverside Drive, zu denen auch die Cresspahls gehören, eine ethnisch, politisch wie sozial recht homogene Gruppe. Es kommen auch andere, aus Gegenden ohne oder nur mit heruntergekommenen Parks, aber es scheint abseits der Spielplätze bei der Segregation zu bleiben: „Auf den Baseballplätzen sind die Puertorikaner für sich, auf den Basketballfeldern üben die Neger für sich allein, und Fußball spielen die Westinder untereinander. Sie borgen die Landschaft, die ihnen zusteht.“

Bleibt die Frage, wohin Gesine und Marie Cresspahl gehören, welchen Teil der Parklandschaft sie sich borgen können. Bei der Women’s Health Protective Organisation, von Johnson ein wenig hämisch als „Frauenliga für die Beschützung des Parks Riverside“ übersetzt, jedenfalls nicht, obwohl Public Health doch eigentlich ein Thema ist, mit dem sich Gesine Cresspahl müsste anfreunden können, weil es um die Verbesserung des Lebensalltags in Städten geht. Doch es ist das wiederkehrende Motiv des Wassers, zu dem beide gehören, Mutter und Tochter. Eine gebrochene Idylle:
„Wir haben den Fluß. Der Fluß unter dem verstellten Himmel zieht auf das nahe Meer zu, bietet langsam reisende Schiffe, nachts Nebelhörner, grüne, graue, blaue Garben gemischt mit denen des Parks, eine Ansicht von Ferien, und so vergiftet ist der Fluß von der Industrie, Menschen dürfen da nicht einmal baden. Der Fluß sammelt das Licht des Himmels und seinen Schmutz, der hilft die Sonnenuntergänge kolorieren. Der Geruch des Flusses kommt mit an den Riverside Drive.“
„Frau Abs glaubte sich am falschen Ort in Jerichow“ (20. Mai 1968)
Marie Abs lebt seit ihrer Ankunft in Jerichow zu Beginn des Jahres 1945 mit anderen Geflüchteten bei Heinrich und Gesine Cresspahl. Seit sie aus Wollin über Neubrandenburg und Malchow in Richtung Griese Gegend um Ludwigslust geflohen ist und es Jakob und sie nach Jerichow verschlagen hat, sorgt sie sich, dass ihr Mann sie bei seiner Rückkehr nicht finden kann. Der würde sie wohl bei ihrer Familie in Eldena suchen, auch wenn sie seit ihrer Heirat keinen Kontakt zu den Menschen hat, die sie wie eine „unbezahlte Magd“ behandelt haben. Wilhelm Abs, aus dem Wehrmachtsgefängnis in Anklam entlassen und an die Ostfront strafversetzt, ist verschollen.
Die ausgebildete Köchin macht sich das Cresspahlsche Haus, das sie nicht versteht, über die Pflege der beiden an Typhus erkrankten Mädchen und die Organisation der Küche zu eigen. Die „Gäste in Cresspahls Haus […] fügten sich der großen hageren Frau, die so still blicken, so gleichmütig bestimmt sprechen konnte“. Besonders Gesines nimmt sie sich an, sie initiiert die gemeinsame Pflege von Lisbeth Cresspahls Grab, näht ihr Kleider, versorgt ihre Wunden. Die Zwölfjährige will nicht, dass Jakob und Marie Abs sie wieder verlassen.
„Jakob sollte bleiben; Jakobs Mutter sollte bleiben. Sie hat mir das Essen gekocht und hat mir gezeigt, wie man es machen muß mit dem Haar, sie hat mir geholfen in der Fremde. Ich weiß den Abend, bei dem ich die Hände auf dem Rücken behielt, – Gesine: sagt sie, berührte leicht und höflich meine Schulter mit ihrer rauhen harten Hand; ich weiß ihr halblautes schleuniges Reden. Ich weiß ihr Gesicht; das ist lang und knochig und in den schmalen trockenen Augen schon sehr entlegen zum Alter hin, ich habe eine Mutter gehabt alle Zeit. Alle Zeit.“

Diese Frau will nun mit Jakob einen Siedlerhof erwerben, denn „der Junge sollte doch Eigentum haben“. Doch der erst siebzehnjährige Jakob will nicht, er hält das Unternehmen ganz ohne Besitz von Tieren oder Landmaschinen für nicht besonders aussichtsreich, und so wird daraus zu Gesines großer Erleichterung erst einmal nichts und die Abs bleiben, denn auf Heinrich Cresspahls Angebot, gemeinsam eine Siedlerstelle zu kaufen, will sie nicht eingehen. Ihre Unabhängigkeit muss sie sich anders bewahren:
„Sie zeigte den beiden eine Woche später, daß sie sich nicht anbinden ließ an Cresspahls Haus. Sie ging halbtags arbeiten, im Krankenhaus, als Köchin.“
Und so ist Gesine weiter mit der Frage beschäftigt: „Wie war Jakobs Mutter zu halten in Jerichow?“ Dabei ist gerade sie es, die für Marie Abs ein Grund zu bleiben ist. Denn beim scheuen Mädchen „glaubte Frau Abs sich halb willkommen“.
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Literatur
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.
New York
Liebe Frau Förster,
seit vierzig Wochen folge ich Ihnen mal um mal mit Begeisterung, die Erinnerung an meine schon etwas zurückliegende ‚Jahrestage‘-Lektüre verlebendigt sich und: immer wieder nimmt mich ein sehr virulenter Tagtraum in sich auf: die ‚Jahrestage‘ in New York lesen. Die vier Bände der Leinenausgabe samt Adreßbuch, Kommentar und sehr gutem Stadtplan dort lesen, wo wir Marie und Gesine ein Jahr lang begleiten dürfen, im ‚Jetzt‘ des Romans, in der Stadt am Hudson. Die Tage setzten sich zusammen aus Lektüre und Unterwegssein: U-Bahn, Parks, Monumente, Häuser, Museen, Institutionen, South Ferry, Einkäufe, Bibliotheksbesuche, Kinogänge, Tschechischunterricht …
Für mich nicht finanzierbar – aber träumbar.
Danke für Ihre Arbeit.
Lieber Herr Merle,
ich freue mich sehr über Ihre freundliche Rückmeldung und Ihr Interesse. Adreßbuch und Kommentar finde ich auch unglaublich hilfreich.
Die ersten Jahrgänge des Johnson-Jahrbuchs sind übrigens auch frei im Netz verfügbar, Sie finden sie ggf. hier: https://www.uwe-johnson-gesellschaft.de/jahrbuch/jahrbuch-archiv.html
Jetzt biegen wir langsam auf die Zielgerade ein…
Herzlich grüßt Sie
Birte Förster