Marie verlangt von jemandem zu hören, dem der Sozialismus „Spaß macht“, und so berichtet ihre Mutter vom Gneezer Landrat Gerd Schumann, 1946 mit 23 in Amt und Würden gekommen. Das erzählt sie (und Uwe Johnson) aber nicht irgendwie, sondern mit der Methode des einfühlenden Nacherlebens des Historismus. Um das forschende Verstehen geht es in der vierundvierzigsten Wochenlektüre.
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„– Gesine, nun zeig mir endlich einen, dem das Spaß macht. Der am Drücker sitzt. Der das freiwillig tut. So einen. Der Bescheid weiß. Der glücklich ist damit. Einen mußt Du doch wissen.
– Einen weiß ich. Stell Dir vor, Du bist dreiundzwanzig Jahre alt –
– Gern, Gesine. Gern.“
Marie Cresspahl will die Motive eines Menschen kennenlernen, den Sinn seines Handelns verstehen, seine Gefühle, ihn selbst. Im Dialog von Mutter und Tochter stellt diese sich nun vor, der dreiundzwanzigjährige Gerd Schumann zu sein. Die Mutter spricht sie in der zweiten Person an, um von Gerhard Schumann zu erzählen. Bei der Annäherung an diesen „am Drücker“ Sitzenden geht es also um das einfühlende Nacherleben, das Sichhineinversetzen in ein historisches Subjekt. Diese Form historischer Erkenntnis privilegiert den Einzelnen, versucht dem Sinn seiner Handlungen nachzuspüren. Grob gesagt: Gesine Cresspahl liefert am 18. und 21. Juni 1968 das historische Material, die Tochter interpretiert in kurzen Einwürfen das Geschehen und versucht dabei den Standpunkt des ihr eben noch völlig Unbekannten einzunehmen. Dabei bleibt es aber nicht, denn die Auswahl des Materials ist genauso schon Interpretation wie die Entscheidung, die Methode des forschenden Verstehens zu wählen und damit eine schrittweise Annäherung an Thema und historisches Subjekt, die immer wieder mit der Fragestellung abgeglichen werden muss. Diese Annäherung wird durch die zweite Person Singular noch verstärkt, denn es entsteht der Eindruck, als würde mit Schumann und nicht über ihn gesprochen.

Wie und wieso also macht einem die neue politische Situation im Jahr 1946 Spaß? Zum einen, wenn man zur Elite gehört: Schumann ist mit 23 Landrat von Gneez geworden, seine bevorzugte Stellung – sie ist nach außen auch durch das Recht, eine Waffe zu tragen, sichtbar – verdankt er der Tatsache, den Kommunisten „über die Ostfront“ zugelaufen zu sein. Er spricht Russisch, hat Macht, ist „einer von den allerersten“, in Verwaltung geschult, Mitglied der „Initiativgruppe Nord“ von Gustav Sobottka (1866-1953). Doch der junge Landrat hat noch andere Qualitäten, als auf dem richtigen Dampfer zu sitzen, in dieser speziellen Form des Dialogs: „du hast bewiesen, was du taugst“. Denn Schumann hat die Realpolitik erledigt, hat Obdach geschaffen für eine „Bevölkerung auf das Doppelte angewachsen“, Nahrungsmittel und Arbeit organisiert, sämtliche Verkehrsinfrastrukturen repariert und nebenbei noch eine kommunistische Utopie verwirklicht: „Wo früher zweieinhalbtausend Gutsbesitzer den Boden ausbeuteten, hast du fast fünfundsechzigtausend Neubauern einsetzen helfen“.

So einer kann, meint Marie, keine anderen Sorgen haben, aber die hat der Perfektionist Schumann nach Angaben Gesine Cresspahls sehr wohl: Er kennt sich nicht mit Landwirtschaft aus, versteht als Mannheimer das Mecklenburger Platt nicht, doch er kann sich erfolgreich bewähren, auch wenn er anfangs nicht einmal weiß, „wieviel Milch eine Kuh denn überhaupt gibt“. Das ist aber die kleinere Sorge, die größere hat er mit jenen Parteigenossen, die ihm mit „Krawallsozialismus“ kommen.
„Sie verlangen von der Partei die unumschränkte Machtergreifung durch die Arbeiterklasse, du bringst ihn sachte darauf, daß der Sozialismus nur mit dem vorhandenen Personal gemacht werden kann, mit den Bauern, den kleinen und mittleren Bürgern, gewiß der führenden Arbeiterklasse; dazu eben hat die Rote Armee die Großgrundbesitzer, die Großmilitärs, die Großbanken, die Großindustrie weggenommen. Weggeschickt.“
Diesen „besonderen deutschen Weg“ des Sozialismus muss er an anderer Stelle gegen die Kritiker der Demontagen von Industriezweigen verteidigen, die darin – nicht zu Unrecht – auch die Zerstörung proletarischer Zentren sehen. Auch nach den Emigrant*innen, die bei stalinistischen Säuberungsaktionen ermordet wurden, wird Schumann gefragt, der dann – Jahrgang 1923 – „für Augenblicke zu jung“ ist. Problemkreis drei sind Mecklenburger Potentanten und genauso seine Mitarbeiter*innen, die er nicht einschätzen kann und an die er trotzdem Arbeit delegieren muss, auch die neuen Parteimitglieder, denen er zum Teil Opportunismus unterstellt. Und immer wieder die Sprache: „Kåmen sei, so kåmen sei nich; kåmen sei nich, so kåmen sei; bæter ist’s, sei kåmen nich un kåmen doch, as dat sei kåmen, un nich kåmen.“ Aber statt im Badischen will ihn die Partei in Mecklenburg, und da ist nun sein Platz.

An dieser Stelle unterbricht Marie das einfühlende Nacherleben und fordert ihre Mutter auf, die hermeneutische Differenz nicht zu groß werden zu lassen: „Mach mir den nicht weinerlich, Gesine.“ Doch die Mutter erzählt weiter von den Konflikten, vor allem von der Bedrohung der Arbeit des Landrats durch die Zentralverwaltung für Landwirtschaft, welche die fruchtbaren Böden Mecklenburgs und vor allem die aufzuteilenden Güter in einem großen Kartoffelacker von 600.000 Hektar zusammenführen will – und zwar zu einem Zeitpunkt, als „die Leute“ ihm endlich abnehmen, dass er „ihnen Gerechtigkeit bringen“ wollte. So wird er zum unfreiwilligen Gegenspieler der Administration, sitzt zwischen den Stühlen. Sich in all das einzufühlen führt an Grenzen, und Marie bricht den Versuch ab, als es um Slata geht, in die sich Schumann verliebt hat, vergebens. Deren Motive sind unklar, und so bleiben Mutter und Tochter zunächst bei dem Schluss, der junge Landrat habe Spaß an der Macht.
Beim zweiten Gespräch über Schumann gehen die Cresspahls ihr historisches Arbeiten denn auch anders an und untersuchen den Kontext seines Handelns am Beispiel der Kommunalwahlen. Als im September 1946 Gemeindewahlen anstehen, kann er im Wahlkampf auf die Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration rechnen, für Wahlwerbung wie bei Wahlkampfterminen, und kein geringerer als Kommandant J. J. Jenukidse schult ihn darin. Die Tochter verlangt nach einem Originalton.

„– Rede mal so Gesine.
– Die erste Ernte auf freiem Boden. Der Raubbau der Junkerherrschaft von den zwanziger Jahren bis zur Befreiung. […] Nicht aber um die Sowjets geht es, nicht um die Diktatur des Proletariats, nur um den neuen Anfang, den Aufbau, im Bündnis mit den antifaschistischen Kräften, auch den bürgerlichen, sofern sie ehrlich sind. […] Parlamentarische Demokratie, mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk, unter dem Schutz der Sowjetunion.“
Trotz verschenkter Zigaretten gewinnt Schumanns Partei ‚nur’ zwei Drittel der Stimmen, die Liberalen und Christdemokraten vereinten fast den gesamten Rest auf sich, mehr „als ein Viertel der Leute in Mecklenburg vertraute ihm nicht“. Die Freunde hat er enttäuscht. Hier gelingt das Einfühlen vielleicht doch:
„Jetzt glaubte er das Gefühl der letzten Wochen zu erkennen: Angst vor dem Versagen, Ahnung der Niederlage. Ältere wären erleichtert gewesen, wenigstens über sich Bescheid zu wissen; ihm mit seinen dreiundzwanzig Jahren war kaum zu helfen.“
Ob so ganz im Sinne Johann Gustav Droysens durch das Erkunden von Subjektivität die Beziehung des Individuums zu gesellschaftlichen Strukturen erkannt werden kann, ist eine Frage für weitere Forschung – sowohl der Figuren als auch des Autors.

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Literatur:
Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hrsg.), Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999. Aktualisierte Fassung.
Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012.
Ulrich Muhlack, Verstehen, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 3. rev. u. erw. Aufl. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 104-124.