Die Woche mit Frau Cresspahl

Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

47. Lesung: Die Rückkehr des Vaters

Erst im Mai 1948 wird Heinrich Cresspahl aus der Haft entlassen. Seiner inzwischen fünfzehnjährigen Tochter Gesine mag er nicht gleich gegenübertreten, denn er hat sie fast drei Jahre lang nicht gesehen. Und so geht er zunächst auf den Hof von Johnny Schlegel: um sich zu waschen, neu einzukleiden, das Gefängnis abzuwaschen. Doch Johnny Schlegel lässt Gesine auf seinen Hof holen und so stehen sich Vater und Tochter nach langer Abwesenheit gegenüber. Von der Rückkehr Heinrich Cresspahls handelt die siebenundvierzigste Wochenlektüre.

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Darum geht es in diesem Blog

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Vom Hinausschieben einer Heimkehr (8. Juli 1968)

Heinrich Cresspahl liegt im Mai 1948 im Garten des Landwirts Johnny Schlegel den ganzen Tag in einem Wassertrog und badet. Johnnys Tochter Inge bringt „alle Stunde mal“ heißes Wasser nach. Es ist, als wolle der aus der Gefangenschaft Zurückgekehrte sich einweichen. Dass Johnny Gesine nicht von der Rückkehr ihres Vaters erzählen soll, macht ihn ganz mürbe:

„Dieser Cresspahl wußte doch vorläufig bloß, daß seine Tochter mit den Absens noch in Jerichow war, auch im eigenen Haus. Konnte der nicht mal was fragen, nach all den Jahren Abwesenheit bei den Sowjets? Johnny warf die Würde von sich und sagte, als rechnete er etwas aus: Das sei ja nun wohl eine lange Reise für Cresspahl gewesen.“

© dpaZuerst geht Heinrich Cresspahl im Mai 1948 zu Johnny Schlegel nach Damshagen

Aus Wismar ist Cresspahl zu Fuß zu Schlegels Hof in Damshagen bei Jerichow gelaufen. Um Johnny vom vielen Fragen nach seiner Gefangenschaft abzuhalten, wundert er sich mürrisch über Gestank auf dem Hof. Der rührt daher, dass es Axel Ohr, dem „weggelaufenen Stadtkind“, der bei Schlegel arbeitet und die Landwirtschaft erlernt, seit wohl einer Stunde nicht gelungen ist, die Gefängniskleidung Cresspahls mit altem Stroh zu verbrennen. Um die Peinlichkeit des Schweigens und seine Unsicherheit am Rand des Badetrogs zu überbrücken, erzählt Johnny von Gesine „und ihren beachtlichen Fähigkeiten als landwirtschaftliche Arbeiterin“, denn sie hat vor zwei Jahren im Sommer bei ihm gearbeitet. Johnny beschließt dann, Schicksal für Vater und Tochter zu spielen, und schickt Axel nach Jerichow, um Gesine nach Damshagen zu holen. Dafür findet er die falschen Worte und stiehlt sich davon. Ganz anders haben sich wohl beide ihr Wiedersehen vorgestellt:

„–Dor hest du din’ Seehunt! sagte Johnny Schlegel, als er Cresspahls Tochter an den Bottich führte, der nun mit zwei Frühstücksbrettern abgedeckt war. Es war ganz falsch, denn Cresspahl hatte keinen Bart, sein Kopf war ein Turmschädel; auch heißt in Mecklenburg Einer Seehund, der mit gewagten Streichen lustig durchkommt. Cresspahl war nicht heil durchgekommen.“

Gesine hat Angst davor, mit diesem Mann, in dem sie den Vater nicht wiedererkennen kann, allein gelassen zu werden. Der Vater ist abgemagert, kahlgeschoren, so gar nicht, wie sie ihn in Erinnerung hat, sie hat „ihren Vater kaputt zurückbekommen“. Und doch ist er es. „–Ick hev di wat mitbröcht: sagte der Fremde mit der Stimme ihres Vaters.“ Aber er ist ihr fremd geworden und dafür schämt sich das Mädchen.

 

© privatHeinrich Cresspahl kehrt im Mai 1948 zurück nach Jerichow

 

„Wenigstens hast Du ihn nun zurückgeholt“ (10. und 11. Juli 1968)

Lange hatte die Mutter nicht von der Rückkehr ihres Vaters aus der Kriegsgefangenschaft sprechen können, nun will Marie die genaueren Umstände seiner Haft wissen, doch Cresspahl schweigt sich darüber aus. Erst Jahre später erzählt er Jakob etwas über die Bedingungen im Lager. Der Vater ist krank, verbringt Teile des Tages in der Badewanne und hat Angst vor der Jerichower Obrigkeit, seine Tochter trifft ihren Vater stets sitzend an:

„In seinem Gang war ein Zucken übrig geblieben, er hatte sich für den Schaden vor Johnny und Inge nicht geschämt, Axel Ohr durfte sehen, wie er vom Wagen stieg; mir wollte er so nicht unter die Augen kommen.“

Sie hat Angst um den Vater, erst nach sechs Wochen geht es ihm zumindest körperlich besser. Beim gemeinsamen Sitzen vor dem Haus kommen sie einander langsam wieder näher, als sie die Küken einer Amsel auf je eigene Art vor der Katze retten. Wie es zwischen Vater und Tochter zugeht, erfahren die Leser*innen kaum. Heinrich Cresspahl verbirgt sein Leiden vor Gesine und schließt sie damit weitgehend aus seinem Leben aus. Der Vater ist noch immer nicht zurückgekehrt. Marie identifiziert dies als „Haftfolgen“. Das wiederum hat sie sich in einem der Bücher der verbotenen obersten Regalreihe angelesen.

 

Imaginäre Gespräche (12. Juli 1968)

Nachdem Gesine Cresspahl vor ihrer Reise nach Prag an einen Lügendetektor angeschlossen worden ist, offenbart sie dem zu dieser Versuchsanordnung gehörenden New Yorker Shrink, was es mit den Stimmen auf sich hat, die sie hört und die in der Romanerzählung immer wieder vorkommen. Seitdem sie 32 Jahre alt ist, gelangt sie „manchmal zurück in vergangene Situationen“ und spricht

© WDR/BetkeGesine Cresspahl hört die Stimmen von Toten

„mit den Personen von damals wie damals. Das ereignet sich in meinem Kopf, ohne daß ich steuere. Auch verstorbene Personen sprechen mit mir wie in meiner Gegenwart. Etwa machen sie mir Vorhaltungen wegen der Erziehung meiner Tochter (geb. 1957). […] Ich spreche auch mit Verstorbenen, die ich nur vom Sehen kenne, die mir als Kind nur so viele Worte gegeben haben, wie es für eine Begrüßung oder das Überreichen eines Bonbons nötig war. Jetzt werde ich von denen in Situationen hineingezogen, in denen ich nicht anwesend war“.

Neuerdings aber finden diese Gespräche in verschiedenen Altersstufen statt, nicht mehr allein vom Standpunkt der Fünfunddreißigjährigen aus. Sprachfetzen und Stimmqualitäten können diese Gespräche auslösen und Gesine Cresspahl in die Gegenwart der Toten katapultieren, auch in eine, die weit vor ihrer Geburt liegt. In einer „zweiten Strähne“ hört sie in Gesprächen nicht nur das Gesagte, sondern auch das Ungesagte von Kollegen und Nachbarinnen. Dieser zweite Strang lässt sie aber auch „die schlimmsten Sachen“ von ihr nahestehenden Personen hören. Beschwerden mache ihr das nicht, aber sie sorge sich um ihre Tochter.

Ihre Kopfstimmen aber sind wütend über den Verrat:

‚Sie sprechen mit mir.‘ Du hast gepetzt.
Ihr. Wo siet ji afblewn?
Hast gewartet?
Ihr Toten seid doch sonst…
Mit dem Maul voraus.
Zur Stelle.
Wir hatten zu tun.
Sagt ihr es mir.
Wir haben nichts.
Kein Mal habt ihr gesagt: Wi sünt all d
år. Nun will keiner mit mir sprechen.
Was haben wir mit der Zukunft zu tun.
Was ist … es soll nicht für mich sein, Marie hat es gefragt: Was ist … beständig?
Wir.“

 

 

Literatur:

Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970-1983), Frankfurt a. M. 1983. Überarbeitet und digital neu herausgegeben von Anke-Marie Lohmeier 2012